Dok. 11-300

Erich Kessler beschreibt am 8. Mai 1945 in seinem Tagebuch das Wiedersehen mit seinem Bruder Hans und die Ankunft der Roten Armee in Theresienstadt

Heute morgen um ½ 7 wurde ich geweckt mit der Nachricht, daß

Heute morgen um ½ 7 wurde ich geweckt mit der Nachricht, daß

Orte
  • Grenze Staatsgrenzen von 1937
  •  
Personen

Erich Kessler (*1909); lebte in „Mischehe“ in Prag, 1943 Geburt der Tochter Elisa; im Febr. 1945 wurde er aus Prag nach Theresienstadt deportiert, dort arbeitete er für den Ordnungsdienst; 1945 in Theresienstadt befreit und Rückkehr nach Prag.

 

Hans Kessler (1912–1984); am 10.10.1942 aus Wien nach Theresienstadt deportiert, von dort im Dez. 1943 weiter nach Auschwitz, von Juli 1944 an leistete er Zwangsarbeit im Außenlager Schwarzheide (Sachsenhausen), im Frühjahr 1945 erreichte er nach einem Todesmarsch Theresienstadt; dort befreit.

 

Erna (Ernestine) Kessler (1880–1944); im Okt. 1942 Deportation aus Wien nach Theresienstadt, im Dez. 1943 weiter nach Auschwitz ins Theresienstädter Familienlager, dort ermordet.

Skript

Heute morgen um ½ 7 wurde ich geweckt mit der Nachricht, daß mein Bruder Hans heute nacht mit einem Transport nach Theresienstadt gekommen ist. Ich war natürlich im Nu aus dem Bett und angekleidet und lief zur Sammelstelle. Das war ein Wiedersehen, nach so vielen Jahren schmerzlicher Trennung! Oft war ich ganz mutlos und wagte nicht, an ein Wiedersehen zu glauben. Dann faßte ich doch wieder Hoffnung, und Gott sei Dank hat sich diese als begründet erwiesen. Aber wie mußten wir uns wiedersehen. Abgemagert mit den typischen KZ-ler Blick, der von unvorstellbarem Grauen spricht. Das Normalgewicht von Hans war 72–73 kg. Heute wiegt er 48. Viel mußten die armen Kerle mitmachen, ehe sie den unter dem Schutze des Roten Kreuzes stehenden Boden Theresienstadts betraten und dadurch dem Leben wiedergegeben wurden. 3 Wochen waren sie unterwegs. Fast ohne Essen und größtenteils zu Fuß. Die letzten 2 Nächte waren besonders arg. Es regnete in Strömen, und sie standen im offenen Lastwaggon eng zusammengepfercht und bis auf die Haut durchnäßt. Dabei aber todhungrig, so daß einer nach dem anderen vor vollkommener Entkräftung tot zusammenbrach. 70 Todesfälle waren in der letzten und schrecklichsten Nacht. Hans setzte sich auf seine Eßschale und schlief vor Schwäche ein. Als er erwachte, saß er im Wasser, und als Folge davon hat er furchtbaren Durchfall. Nicht weniger als 40 Mal mußte er auf die große Seite gehen. Er bat mich, irgendein Gegenmittel aufzutreiben. Ich lief natürlich ins Spital zu einer bekannten Schwester, doch bekam ich nur Tierkohle. Zum Glück hatte ich noch getrocknetes Brot, das ich ihm auch brachte, damit er nicht in Versuchung kommt, etwas zu essen, was ihm schaden könnte. Im Dezember 1943 gingen von hier 1500 Personen weg, und gestern kehrten 280 zurück. Alle anderen sind vergast, verhungert oder an den Strapazen zugrunde gegangen. Auch unsere liebe gute Mama werden wir nicht mehr sehen. Was diese Menschen erlebt haben und sahen, ist so ungeheuerlich, daß es kaum glaubhaft ist. Die Osttransporte, die von Theresienstadt abgefertigt wurden, kamen in Birkenau, einem Nebenlager von Auschwitz an, unter Stacheldraht. Dort verblieb der ganze Transport 6 Monate unter Quarantäne. Dann wurde von der Lagerleitung in Berlin angefragt, was mit dem Transport zu geschehen habe, und man gab gleichzeitig eine allgemeine Übersicht über den gesundheitlichen Stand und die Arbeitsfähigkeit der Leute. Gemäß dieser Einschätzung lautet dann das Urteil aus Berlin: „Vernichten“ oder „Arbeitseinsatz“. Im ersten Falle wurde der ganze Transport, ob Mann, Frau oder Kind, alt oder jung, krank oder gesund, vergast. Im zweiten Fall wurden die Arbeitsfähigen vom SS-Lagerarzt ausgesucht und der Rest gleichfalls vergast. Für einen Arbeitseinsatz kamen nur Männer unter 50 und Frauen unter 40 in Betracht. Selbstverständlich versuchte jeder, sich jünger zu machen, wenn er an dieser gefährlichen Grenze stand, um sein Leben noch einmal zu retten. Hans erzählte mir, daß sie 3 mal an den Gaskammern vorbeigeführt wurden und man sich dann doch noch entschloß, den Transport auszumustern. Die Nacht vor seinem Abtransport zu weiterer Sklavenarbeit nach Deutschland verbrachte Hans noch mit unserer lieben Mama. Es muß furchtbar für sie gewesen sein, Hans hat dann noch viel ausstehen müssen, aber zum Glück ist er heute hier. Gegen Mittag wurde der ganze Transport zur sogenannten Entwesung geführt. Ich ging natürlich öfter hin, um zu sehen, was mit ihnen ist. Nachmittags kamen zurückweichende SS-Truppen am Ghetto vorbei, und obwohl das Rote Kreuz angebracht war, warfen sie Handgranaten hinein und schossen mit Maschinenpistolen. Die Leute mußten in den Häusern bleiben. Am frühen Nachmittag griffen alliierte Flieger Leitmeritz an, und da ich gerade auf dem Dachboden der Geniekaserne war, sah ich ganz deutlich die Bombeneinschläge. Später ging ich, an die Häusermauern gedrückt, wieder zur Entwesungsanstalt, aber Hans war noch immer nicht an der Reihe. Als es finster wurde, ging ich noch einmal hin. Hans war noch immer draußen, und sie saßen um einen Haufen brennender KZ-Anzüge herum. Auf einmal hörten wir das Geräusch von fahrenden Tanks und jubelnde Rufe. Das waren die Russen! Ich lief quer durch den Hof des Spitals Hohenelbe zum Kinderspielplatz, wo ich oft gesessen bin und sehnsüchtig auf die Straße hinausgesehen habe. Nun war die Bretterwand umgerissen, und die Kolonnen der siegreichen Roten Armee zogen an uns vorbei nach Prag. Es war stockdunkel, und nur die Scheinwerfer der Fahrzeuge erhellten immer die Straße. Wir jubelten ihnen zu, und alles sang die „Internationale“, jeder, wie er konnte. Deutsch, tschechisch, polnisch, ungarisch, alles durcheinander, aber die gleiche Begeisterung. Ich lief zu Hans zurück, der noch immer beim Feuer saß, und gerade hatten sie Nachtmahl gefaßt. Sie bereiteten sich auf eine Übernachtung im Freien vor. Es war herrlich, das Zeichen der deutschen Tyrannei und Schmach in Flammen aufgehen zu sehen, während die Truppen der befreienden Roten Armee die Reste der „unbesiegbaren“ deutschen Armee zu Paaren trieb: Es war schon spät, als ich mich von Hans verabschiedete, der mit 2 Kameraden bei einem Bekannten übernachtete.