Dok. 11-046

Einen Tag vor ihrer Deportation nach Auschwitz verspricht Mathilde Bing am 27. Juni 1943 ihren beiden Söhnen, dass sie versuchen wird zu überleben

Meine geliebten beiden Jungen!
Nun ist es endgültig soweit

Meine geliebten beiden Jungen!
Nun ist es endgültig soweit

Orte
  • Grenze Staatsgrenzen von 1937
  •  
Personen

Mathilde Bing, geb. Wallach (1890–1943); 1914 Heirat mit Georg Bing; im Frühjahr 1943 scheiterte ihre Flucht nach Schweden, nach ihrer Verhaftung in Rostock wurde sie im Berliner Sammellager Große Hamburger Straße inhaftiert; im Juni 1943 nach Auschwitz, deportiert, dort ermordet.

 

Heinz Bing (1915–1998), Chemiker; 1939 Emigration nach Großbritannien; verheiratet mit Gabriele Bing, geb. Landau (1918–2001).

 

Gerhard Bing (1918–1998), Musiker; 1939 Emigration nach Großbritannien, starb in Santiago de Chile.

 

Georg Bing (1882–1943), Kaufmann; im März 1943 nach Auschwitz deportiert, dort ermordet.

 

Vermutlich: Joachim von Pappritz (1893–1974), Kaufmann; lebte nach dem Ersten Weltkrieg zeitweise in Danzig, später Angestellter bei Horch in Berlin, Ende der 1930er-Jahre Teilhaber der Firma Gustav Hamel & Co., deren Inhaber Georg Bing war; Übernahme der Firma und Unterstützung der Familie; nach dem Krieg in Berlin im Textilhandel tätig.

Skript

Meine geliebten beiden Jungen!

Nun ist es endgültig soweit, morgen kommen wir fort. Ob ich jemals wieder aus der Verschollenheit auftauche, weiß ich nicht. Wo Vati ist, weiß ich auch nicht, auch wo alle anderen Verwandten sind. Der Euch meinen Abschiedsbrief übermittelt, weiß über mein Schicksal Bescheid. Ich will Euch nur sagen, dass ich alles versucht habe, um diese Zeit zu überleben, ich werde es auch weiter versuchen. Erst wenn es zu furchtbar wird, dann mache ich Schluß. Ich hatte immer nur den Gedanken, wie kann ich Euch wiedersehen. Immer hatte ich diese schreckliche Sehnsucht nach Euch beiden. Ihr müßt es fühlen, wie lieb ich Euch habe. Ich bitte Euch beide, haltet zusammen, auch wenn Ihr Euch nicht immer versteht in allem, was Ihr tut. In dieser furchtbaren Zeit war es immer ein großer, eigentlich der einzige Trost, daß Ihr beide gerettet und daß Ihr draußen glücklich seid. Ich weiß auch, daß Ihr uns für Euer Leben nicht mehr notwendig habt. Nur für mich selbst wäre es das größte Glück, wenn ich dieses alles überlebe und dann zu Euch kommen könnte. Bis auf die letzten vier Wochen habe ich ein schönes Leben gehabt, schrecklich war immer, daß ich von Euch nichts mehr hörte. Wir denken, daß wir ins Arbeitslager nach Oberschlesien, nach Auschwitz, kommen. Von dort zur Arbeit nach Birkenau oder Monowitz. Wenn Ihr später einmal durch eine Behörde Nachforschungen anstellen lassen wollt. Vati wird vielleicht auch dort sein. Auch Tante Minnie und Onkel Max. Ob ich sie finden kann, ahne ich nicht. Ich bin so froh, daß Du, lieber Heinz, mit Gaby glücklich bist und eben dadurch nicht allein. – Wenn Du, lieber Gerhard, doch auch heiraten würdest, dann könnte ich ganz ruhig sein. Aber vielleicht ist es schon geschehen, und ich weiß nichts davon. Ob Ihr diesen Brief jemals bekommen werdet? Ich weiß es nicht, aber ich mußte ihn schreiben.

Lebt wohl Ihr beiden, ich kann nun nichtmehr, sonst muß ich weinen, und ich will stark bleiben bis zuletzt. In Gedanken küsse ich Euch tausendmal, Euch beide und Gaby als mein drittes Kind.

In großer, großer Liebe!

Mutti