Dok. 10-257

Sarah und Yehiel Gerlitz aus Bendsburg schreiben am 7. Juli 1944 einen Abschiedsbrief an ihre sechsjährige Tochter, die sie zuvor bei einem polnischen Freund versteckt haben


Mein teures, geliebtes Kind, als ich Dich zur

Mein teures, geliebtes Kind, als ich Dich zur

Orte
  • Grenze Staatsgrenzen von 1937
  •  
Personen

Sarah Gerlitz, geb. Weissbrot (1913–1993), und Yehiel Gerlitz (1911–1984) überlebten beide den Krieg. Sarah Gerlitz wurde im KZ Bergen-Belsen befreit, Yehiel Gerlitz überlebte einen Todesmarsch von Buchenwald nach Dachau; beide kehrten nach Katowice zurück, wurden mit ihrer Tochter Yehudit Gerlitz (1937–1997), vereint und wanderten später nach Israel aus.

Skript

Handschriftlicher Brief von Sarah und Yehiel Gerlitz an ihre Tochter Yehudit

 

Mein teures, geliebtes Kind, als ich Dich zur Welt brachte, meine Liebe, konnte ich mir nicht vorstellen, dass ich Dir nach sechseinhalb Jahren einen Brief dieses Inhalts schreiben werde. Das letzte Mal habe ich Dich an Deinem sechsten Geburtstag gesehen, am 13. Dezember 1943. Ich habe mich getäuscht, dass ich Dich vor der Abfahrt noch sehen werde, aber jetzt weiß ich, dass das nicht passieren wird. Ich will Dich nicht in Gefahr bringen. Wir fahren am Montag, und heute ist Freitagabend. Wir – Papa, Pola und ich zusammen mit noch 51 Landsleuten – fahren ins Ungewisse. Ich weiß nicht, mein liebes Kind, ob ich Dich noch einmal sehen werde. Was ich mitnehme, ist Dein geliebtes Bild von zu Hause, Dein liebes Gebrabbel, den Duft Deines unschuldigen kleinen Körpers, den Rhythmus Deines unschuldigen Atems, Dein Lachen und Weinen. Mit mir nehme ich die Furcht in Deinen Augen, die große, panische Angst, die mein mütterliches Herz nicht zu beruhigen vermocht hat. Mit mir nehme ich das letzte Bild vom 13. Dezember 1943, Deinen vorzeitig gereiften Blick, den Geschmack Deiner kindlich-süßen Küsse und die Umarmungen Deiner Ärmchen. Das ist es, was ich auf den Weg mitnehmen werde. Vielleicht wird die Vorsehung erlauben, diesen Alptraum zu überleben und Dich, meinen Schatz, wiederzusehen? Wenn dies geschieht, werde ich Dir dann viele Dinge erklären, die Du nicht verstehst und die Du vermutlich niemals wirst verstehen können, da Du in einem anderen Umfeld und in einer Atmosphäre der Freiheit erzogen sein wirst. Mein kleines Kind! Ich möchte, dass Du dies liest, wenn Du, falls der gute Gott es will, schon groß sein wirst und fähig, unser Verhalten Dir gegenüber zu kritisieren. Ich wünsche mir, mein liebes, teures Kind, dass Du uns nicht verurteilen wirst, dass Du unser Andenken lieben wirst sowie unser ganzes von vielen gehasstes Volk, dem Du entstammst. Ich wünsche mir, dass Du Dich Deiner hochverehrten Großväter und Großmütter, Deiner Tanten und Onkel und Deiner ganzen Familie erinnern wirst. Behalte uns in Erinnerung und klage uns nicht an! Und mir, Deiner Mutter, verzeih ...