Dok. 08-038

Berthold Rudner beschreibt in seinem Tagebuch Mitte Dezember 1941 seine ersten Eindrücke vom Getto Minsk und den dortigen SS-Männern

Die langen Nächte sind schrecklich. Alles hustet, stöhnt

Die langen Nächte sind schrecklich. Alles hustet, stöhnt

Orte
  • Grenze Staatsgrenzen von 1937
  • Grenze Staatsgrenzen und Grenzen der Unionsrepubliken der UdSSR 1938–1941
  • Grenze Deutsch-sowjetische Demarkationslinie im besetzten Polen vom 28. Sept.1939
  • Grenze Grenze zwischen den eingegliederten Gebieten und dem Generalgouvernement
Personen

Berthold Rudner (1885–1942), Automechaniker; 1920 Mitarbeiter der USPD-Parteizeitung „Freiheit“, später Inhaber einer Autowerkstatt; nach 1933 im sozialistischen Widerstand aktiv, 1940 des- wegen zu einer Zuchthausstrafe verurteilt, unmittelbar nach der Haftentlassung im Nov. 1941 nach Minsk deportiert; dort als Automechaniker für den SD tätig; sein weiteres Schicksal ist unbekannt.

 

Skript

Handschriftliches Tagebuch

 

10. XII. 1941. Die langen Nächte sind schrecklich. Alles hustet, stöhnt, die schlechte Luft reizt, die man in Stücke schneiden könnte, Kranke jammern und ringen nach Luft, Männer und auch Frauen schnarchen entsetzlich, wachen zuweilen mit Schreck auf und hungrige Ratten huschen über Betten, werfen von den Regalen Gegenstände auf die Schlafenden, ängstliche Frauen schreien auf, ich liege eng, schwitze, meine Haut juckt entsetzlich, und ich warte mit Sehnsucht auf den Morgen. Bin meist der Erste auf. Liege ich noch, rezitiere ich im Kopf und überdenke meine ganze Lage. Und die meiner Umgebung.

Stumpfsinn regiert die Stunde. Hunger tut weh. Hab’ genug Erfahrung in dieser Beziehung. Aber wenn das Tier „Mensch“ geistig zu den Hunden flieht, dann ist ein Zustand erreicht, der unerträglich wird und den die stärksten Nerven kaum auszuhalten vermögen. Somit ist’s jetzt. Gemessen an meiner heimatlichen Untersuchungshaft, lebte ich damals in einem Paradies.

 

11. XII. 1941. – Im Lande der „Nagaikas“, Handpeitschen mit kurzem Griff und geflochtener langer Lederschnur, die über Köpfe und Körper saust, herrscht die Prügel-Misere. Gleich nach meiner Ankunft sah ich hier Dostojewski-Bilder abstoßendster und deprimierendster Art. Mir unterstehenden jüdischen Russen wurde Missverständnissen wegen ins Gesicht geschlagen. – Gestern intervenierte ich erneut wegen der Unterkünfte „meiner“ 5 Russen. Unter ihnen befindet sich der Erbauer des Minsker Lenin-Hochhauses, ein sehr großer und imposanter Betonbau. (Seine Frau und 1 Tochter wurden erschossen, ein 13jähriges Mädchen mit feinem Gesicht und Augen, die viel gesehen haben, blieb ihm. Alles Geld und Gut, Wäsche etc. verlor er.) – Also damit „meine“ Russen nicht delegiert werden, intervenierte ich bei einem SS-Mann, dem diese Aufgabe obliegt. Der Mann war aus meiner Heimat, – ich vermute, aus Tirol – und so stellte ich mich akustisch auf den Ton des Inspektors ein. Als ich ihn ansprach, besah er mich und meinte, ich sei ja – Jude und hätte den Hut abzunehmen, wenn ich mit ihm sprechen wolle. – Es war kalt; der Wind strich mir durchs spärliche Haar; ich nahm mein Wiener Hütl ab und brachte mein Anliegen vor. Der junge Mann konnte mein Sohn sein.