Dok. 06-328

Marta Richterová schildert im Frühjahr 1943 rückblickend die Lage der aus Theresienstadt deportierten Juden im Rigaer Getto


Ich will Euch allen kurz beschreiben, wie es hier aussieht

Ich will Euch allen kurz beschreiben, wie es hier aussieht

Orte
  • Grenze Staatsgrenzen von 1937
Personen

Marta Richterová, geb. Piskatá (*1909), Verkäuferin und Schneiderin; verheiratet mit Jan Richter (1904-1982), einem Angestellten beim Brünner Radio, das Paar ließ sich vor Okt. 1940 scheiden; sie wurde im Dez. 1941 aus Brünn nach Theresienstadt und im Jan. 1942 in das Getto Riga deportiert, dort ermordet.

 

Hedvika (Heda) Stuchlíková, geb. Trakačová (1920-1999), Verkäuferin; Cousine von Marta Richterová; sie musste sich nach der Inhaftierung ihres Ehemanns Stanislav Stuchlík (1910-1999), Leiter einer Ziegelbrennerei in Brünn, mit ihrem Sohn Rudolf Stuchlík (*1937) und zwei weiteren Kindern bei Verwandten ihres Mannes verstecken; Stanislav Stuchlík wurde im Okt. 1944 in das Arbeitslager Postelberg (Postoloprty) bei Most verschleppt.

Skript

Handschriftlicher Brief

 

Liebe Heda, Staňa und Rudíček,

 

ich habe die Gelegenheit bekommen, Euch wieder zu schreiben. Ich will Euch allen kurz beschreiben, wie es hier aussieht. Es ist nur ein Ausschnitt, im Detail kann ich es nicht schildern. Der Zug mit den Transporten hielt in einem Vorort an, etwa acht Kilometer von Riga entfernt.

Der Güterbahnhof Riga-Škirotova war 12 km von Riga entfernt. Wir stiegen aus, und die SS wütete mit Revolvern in der Hand. Alles Gepäck ablegen, Uhren, Ringe, Papiere abgeben, auch ich kam an die Reihe [...]

Im Getto hieß uns die jüdische Polizei mit Stöcken in der Hand willkommen […]. Am Anfang war es schrecklich. Vor uns waren schon vier Transporte aus Deutschland eingetroffen. Nach [...] Tagen ging ein Appell an die Männer, die 16 Kilometer vom Getto entfernt arbeiten sollten! Männer bis 55 Jahre [...] vor allem die aus unserem Transport wurden weggebracht. Nach sechs Monaten kamen sie in einem schrecklichen Zustand zurück. Von den insgesamt 2000 Männern kehrten 1200 wieder. Von den 430 Männern aus Prag kam genau die Hälfte zurück.

Überall verhält sich die jüdische Polizei am schlimmsten. In den ersten Wochen wurde außer ein, zwei Scheiben Brot pro Tag kein Essen zugeteilt. Das G.[etto] ist groß, früher wohnten hier die Ärmsten. Es ist mit Stacheldraht umzäunt und wird außen von der lettischen Polizei überwacht. Von den 4000 lettischen Juden sind wir ebenfalls durch Stacheldraht getrennt, sie dürfen mit einem Passierschein zu uns herüber. 400 lettische Frauen wurden separiert. Es lebten insgesamt 94.000 hier, die Frauen und Kinder wurden regelmäßig während des abendlichen Appells im Getto erschossen, jeweils zwei nacheinander. Die Häftlinge mussten sie dann selbst begraben. Viele von ihnen fanden ihre Frauen und Kinder usw., natürlich tot. Nach drei Tagen wurden wir unter Aufsicht zur Arbeit in die Schutzbunker [...] abgeordnet. [...]. Um viertel sieben früh gab es einen Appell, und um 9 kamen wir bei minus 35 Grad und mit einer Scheibe trockenen Brotes nach Hause, der Hunger war schrecklich. […] Die meisten verkauften ihre Uhren und Ringe für sehr wenig Geld. Ich konnte mich nicht davon trennen und habe deshalb ziemlich gehungert. Es gab dort häufig bewaffnete Kontrollen. Auf Tausch stand die Todesstrafe. Jeden Tag wurde jemand wegen Tauschens erschossen oder gehängt. Oft wurden wir nach der Arbeit zum Galgen geführt, um uns die Bestrafung anzusehen. Das war alles ganz schrecklich. […]

Die erste Aktion fand hier zwei Mon.[ate] nach unserer Ankunft statt. 1500 Alte wurden in den Wald gebracht und dort ins Jenseits befördert. Die zweite [Aktion] vergangenes Jahr zu Pessach, die dritte betraf die lettisch[en] Juden. 41 lettische Juden wurden im Getto mit dem Maschinengewehr [erschossen], 140 im Wald ins Jenseits [befördert].

[Im Lager] Salaspils starben die meisten an Hunger oder durch Kugeln. Die Beziehungen zwischen den deutschen und tschechischen Juden gehen bis aufs Messer. Die tschechischen Juden sind bei den Ariern und den holländischen Juden beliebt, die deutschen nicht. […] Auch ein Bekannter von mir arbeitet hier. Er ist ein sehr anständiger Mensch, etwas älter. Er überbrachte mir den letzten Gruß von Heda und Jenda. Meine Freude könnt Ihr Euch gar nicht vorstellen.[…]

Ich mache Tauschgeschäfte für andere und behalte ein Drittel für mich, davon lebe ich, nur von den Rationen kann man nicht leben. Wir bekommen etwa 10 dkg Zucker für 14 Tage, das Brot reicht mir statt für drei lediglich für eineinhalb Tage, [außerdem] Kaffee, [Hafer]flocken, schwarz.[es] Mehl, Salz, Grütze, stinkende Fischköpfe und Kr.[aut]blätter. Wir pflücken Brennnesseln [als Ersatz für] Spinat, das schmeckt ausgezeichnet. Wir sind im Zimmer zu viert,[…]. Der Schwarzhandel ist hier sehr teuer, ein Kilogramm Butter 90 RM, Speck 65 [...], Eier 3-6 [...], Mehl 25 [...] usw. Ich verkaufe gegen Geld Textilien und erwerbe die Waren etwas günstiger. Man sagt, ich sei tüchtig.

Also zittere ich. Mein Bekannter, derselbe, der mir Eure Grüße ausrichtete, fährt für sechs Tage in Urlaub. Heda, wenn Du die Sachen organisieren könntest, wäre ich Dir sehr dankbar. Ich brauche dringend Herrenschuhe Größe 40-41, falls Jenda welche übrig hat, aber sie müssen für die Arbeit geeignet sein. […] Dann noch Sandalen für Herren, Größe 39-40 […]. Sie müssen aber gut sein. Dann noch etwa drei Paar Sommersocken, den ganzen Sommer habe ich Skisocken getragen, zwei Mal Zahnpasta und schließlich ein paar tschechische Zigaretten für unseren Gruppenleiter, der sich mir gegenüber sehr ordentlich verhält, er hat im Getto das Sagen. Außerdem hat Sembera […] meinen Ring, könntest Du [ihn sowie] mein Armband, das bei Dir liegt, und was sich sonst an Goldsachen auftreiben lässt, unauffällig in Kartoffelpuffer einarbeiten? Alle Briefe in die Schuhsohlen [verstecken] und einen per Post an seine Adresse schicken. Das Paket darf nicht groß sein, nur etwas größer als ein Schuhkarton. […] Ich weiß nicht, ob Ihr das alles auftreibt, ich kenne weder Eure Verhältnisse, noch weiß ich, wie die Lage bei Euch ist. […]

In den hiesigen Wäldern gibt es viele Partisanen und Fallschirmjäger. Kontakte sind schwer zu knüpfen, wir haben hier schon Freunde, für den Fall, dass etwas passiert. Ich weiß jedoch nicht, ob wir von hier wegkommen […]

Der Gedanke an die Eltern ist schrecklich. Schreibe mir, was mit ihnen los ist, sie sind alte Leute und hier überkommen einen merkwürdige Gedanken. Aber schreibe nur die Wahrheit. Wie geht es Euch, und was gibt es Neues? [...] Bleibt alle gesund.

Es grüßt und küsst Euch

Marta