Dok. 16-173

Paul Heller beschreibt am 19. Januar 1945, wie Häftlinge während des Fußmarschs vom Außenlager Neu-Dachs wahnsinnig werden

Die meisten gehen wie in Trance, einer unbekannten

Die meisten gehen wie in Trance, einer unbekannten

Orte
  • Grenze Staatsgrenzen von 1937
  •  
Personen

Dr. Paul Heller (1914–2001), Arzt; 1939 in Prag verhaftet und in das KZ Buchenwald gebracht, im April 1943 nach Auschwitz überstellt; 1944 Häftlingsarzt im Außenlager Neu-Dachs (Jaworzno); Jan. 1945 Marsch und Transport nach Buchenwald, dort befreit; Ausreise in die USA, Hämatologe und Professor in Chicago.

Skript

Tagebuch (Abschrift)

 

Die meisten gehen wie in Trance, einer unbekannten, zwingenden, hypnotisierenden Macht gehorchend. Fast alle quält ein unerträglicher Durst, der Durst der Erschöpfung. Wir schlucken Schnee. Ich nehme meine letzte geistige Kraft zusammen, um an mir selbst die Symptome der Erschöpfung zu erkennen. Der Kopf schmerzt, es scheint, als hätten die durcheinanderwirbelnden Gedanken, in die man keine Ordnung mehr bringen kann, die Form von spitzen Nadeln angenommen. Sie martern. Alle Assoziationen sind zerfallen. Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft – ein wildes Chaos. Alpträume in wachem Zustand. Wie ein Süchtiger durchschaut man plötzlich die auftretende Fehlerhaftigkeit einer seelischen und geistigen Konstruktion, die Bestandteile fallen auseinander; man erkennt die Fehler und kann sich ihnen nicht entziehen, sie wehren sich mit all den Nadelstichen gegen eine Korrektur. Man kann nicht anders, man muß sich ihnen hingeben, obwohl man immer noch weiß: du mußt noch alle Kräfte zusammennehmen, um durchzukommen, du bist noch nicht vollends verrückt, denn in einem Gehirnteil hat das Bewußtsein deinen Namen, die Orientierung über Zeit und Ort und dein Schicksal eingegraben. Irgendwo ertönt in dir die ermahnende Stimme: raffe dich auf, halte dich zusammen, du mußt, du mußt durchhalten, denn neben dir droht das Gewehr des SS-Postens. Es wird Tag und wir marschieren weiter, ohne Aufenthalt. Am späten Vormittag bin ich so weit, daß ich von Kameraden auf einen Wagen geladen werden muß. Ich kann nicht mehr. Ich habe das Gefühl, ich hätte hohes Fieber. Ich rede unsinniges Zeug, ich weiß es, aber als ob es eine automatische Hirnpurgation gäbe, ich muß, ich muß es sagen, im vollen Bewußtsein des Unsinns. Wie ein halb Betrunkener erzähle ich, daß wir nun wieder zuhause im Krankenbau sind, ich mich auf mein Bett freue, ich betrachte die Straßen von Preiskretscham, wo wir nun angekommen sind, als ob es die Dorfstraße von Jaworzno wäre, ich suche das Lager, ich suche die Kirche. Ich weiß, daß meine Orientierung falsch ist, daß das ja nicht sein kann, aber ich kann mein Gehirn nicht bändigen, das ungehindert und ungestört mit all den Phantasien und Illusionen spielen will.