Dok. 16-025

Vera Walder muss im August 1942 in der Schreibstube des Krankenreviers in Birkenau gefälschte Totenscheine für verstorbene Häftlinge ausstellen


Ich bin in einem sogenannten Vernichtungslager in Birkenau

Ich bin in einem sogenannten Vernichtungslager in Birkenau

Orte
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Personen

Vera Walder, poln. Jüdin, wurde zusammen mit 50 weiteren Frauen am 30.5.1942 von der Sipo und dem SD in Krakau nach Auschwitz eingewiesen. Über ihr weiteres Schicksal ist nichts bekannt.

 

Gertrud Frinke (1897–1942), Buchhalterin und Stenotypistin; KPD-Mitglied, 1934 verhaftet und 1935 wegen Vorbereitung zum Hochverrat zu fünf Jahren Zuchthaus verurteilt, von Nov. 1939 an im KZ Ravensbrück, am 26.3.1942 mit dem ersten Frauentransport aus Ravensbrück nach Auschwitz überstellt; starb dort im Nov. 1942 an Typhus.

 

Dr. Hellmuth Vetter (1910–1949), Arzt; 1933 SS-,1937 NSDAP-Eintritt; 1938 Tätigkeit für den Chemiekonzern Bayer, Juli 1941 Lagerarzt in Dachau, von Dez. 1941 an in Auschwitz, Okt. 1942 Lagerarzt in Monowitz, führte von Jan. 1943 an Versuche an Fleckfieber-Erkrankten durch, März 1943 bis März 1945 Lagerarzt in Mauthausen-Gusen; 1947 im Dachauer Mauthausen-Prozess zum Tode verurteilt und 1949 hingerichtet.

 

Enna Weiß, Studentin der Medizin, wurde im Frühjahr 1942 aus der Slowakei nach Auschwitz deportiert; lebte nach dem Krieg in Adelaide, Australien.

 

Orli Wald, geb. als Aurelia Torgau, gesch. Reichert (1914–1962), Verkäuferin; 1936 wegen Widerstandstätigkeit zu 4 1⁄2 Jahren Zuchthaus verurteilt, von Dez. 1940 an im KZ Ravensbrück, am 26.3.1942 mit dem ersten Frauentransport aus Ravensbrück nach Auschwitz überstellt, Blockälteste im Häftlingskrankenbau im FKL (Frauenkonzentrationslager), im Jan. 1945 Todesmarsch nach Ravensbrück und Malchow; lebte nach dem Krieg in Ilten bei Hannover.

 

Margot Drechsel (*1908), Sekretärin; 1941 Aufseherin in Ravensbrück, von April 1942 an Aufseherin in Auschwitz, von Okt. 1944 an Lagerführerin des Flossenbürger Außenlagers Nürnberg; Nachkriegsschicksal ungeklärt.

Skript

Bericht von Vera Walder, ohne Datum

 

Ich bin in einem sogenannten Vernichtungslager in Birkenau, es ist August 1942. Ich arbeite in der „Schreibstube“ des „Reviers“, der Krankenstation für die Häftlinge. Wir sind zwanzig Mädchen, alle jüdisch, mit Ausnahme der Vorsteherin der Schreibstube, einer Deutschen namens Frinke, auch sie eine Gefangene, eine Kommunistin. Sie ist eine alte Jungfer, überaus hässlich, mit einer Brille, sie ist gelernte Sekretärin und spricht lediglich Deutsch. Sie ist die Blockälteste im Revier und steht der Revierschreibstube vor. Außerdem ist sie zuständig für die ganzen Zählappelle. Ihr Vorgesetzter ist der deutsche Chefarzt Dr. Vetter, der jeden Tag mit einem Motorrad vorfährt, um in der Schreibstube diverse bereits vorbereitete Schriftstücke zu unterzeichnen. Neben ihm gibt es noch sogenannte SDG- (Sanitätsdienstgrad)-Männer, die als Lagerärzte eingesetzt sind. Dabei handelt es sich um SS-Männer, die während ihres Militärdienstes irgendwann einmal ein paar medizinische Kenntnisse aufgeschnappt und schon einmal von gängigen Heilmethoden gehört haben. Diese wenden sie nun bei den Häftlingen an, spazieren durch die Baracken des Reviers und tun so, als würden sie sich um die Sauberkeit kümmern, prüfen, ob die Decken der Kranken ordentlich liegen (unter denen sich Tausende von Läusen und Fliegen tummeln), vertreten den Chefarzt und entscheiden über Leben und Tod. In der Nähe unserer Schreibstube befindet sich eine Ambulanz. Dort arbeitet eine Jüdin als Ärztin, auch sie eine Gefangene namens Ena, zusammen mit der Sanitätshelferin Orli, einer deutschen Kommunistin, die schon seit acht Jahren inhaftiert ist. In allen Baracken des Reviers, in denen Kranke untergebracht sind, und im sogenannten Schonungsblock für diejenigen, die das Revier verlassen haben, aber noch nicht vollständig genesen sind – in allen diesen Abteilungen arbeiten Häftlinge als Ärzte, Krankenschwestern und Helfer. Überall ist es schmutzig, und immer riecht es nach Chlor. Außerdem gibt es noch Schwester Claire, eine deutsche Gefangene und erstklassige Hebamme, die oft bei Entbindungen hilft, die hier häufig mitten in der Nacht in Regen und Schlamm auf dem bloßen Boden der sogenannten Lagerstraße stattfinden müssen. Armselige, geschwächte Mütter bringen hier ihre Kinder zur Welt, die man zwei Tage am Leben lässt, um sie dann mit einer Spritze zu töten. Es sollte auch noch Schwester Eli genannt werden, die sich weit über ihre Kräfte für die Häftlinge einsetzt.

Wie ich bereits erwähnt habe, arbeite ich in den Nachtschichten in der sogenannten Schreibstube. Die ganze Nacht sitze ich an der Schreibmaschine und tippe in rasendem Tempo. Ich beginne meine Schicht um 7 Uhr abends und beende sie mit dem Zählappell am Morgen, das heißt um 6 Uhr. Danach können wir den ganzen Tag schlafen. Auf dem Schreibtisch liegt eine Liste mit der Beschreibung von 34 Krankheiten, die als Todesursache der Opfer genannt werden. Es gibt hier eine Typhusepidemie und das sogenannte Fleckfieber. Täglich sterben in Birkenau zwischen 400 und 500 Frauen. Jede Nacht müssen wir dementsprechend viele Sterbeurkunden ausstellen. Alle Angaben auf den Karteikarten werden im Büro gefälscht. Zuerst vermerken wir den Todeszeitpunkt. Die Opfer haben das Recht, alle zwei Minuten zu versterben, so ist die „Vorschrift“, zum Beispiel vom Morgenappell bis zum Abendappell, also zwischen 7 Uhr morgens und 6 Uhr abends oder zwischen 7 Uhr abends und 6 Uhr morgens. „Nach dem Abendappell um 7.02 Uhr verstarb der polnisch-jüdische Schutzhäftling Sowieso auf akuten Magendarmkatarrh und Herzschwäche. Der Nächste verstarb um 7.04 Uhr auf der Lagerstraße, der sogenannten Kasernenstraße usw. auf Myocarditis, auf Pneumonie, auf Lungenentzündung, auf Rippenfellentzündung, akuter Magendarmkatarrh, allgemeine Körperschwäche etc.“ Es stehen 34 verschiedene Krankheiten zur Auswahl, und die Schreibkräfte dürfen sich für die Opferkartei eine davon aussuchen, um dann die Krankheit genauestens zu beschreiben, die faktisch nichts mit dem Opfer zu tun hat, das immer mit Gas getötet wurde. Diese Dokumente werden dann von einem deutschen Arzt unterschrieben, woraufhin Telegramme mit Angaben zum Todeszeitpunkt und zur Todesursache in die ganze Welt verschickt werden. In den meisten Fällen entscheiden sich die Schreibkräfte für Herzschwäche als Todesursache, da man dafür nur 4 Zeilen tippen muss. Die Arbeit geht schnell von der Hand und macht keine Mühe. In der letzten Zeit war es sehr heiß, es gibt kaum Wasser. Die Baracken sind von Sumpfland umgeben und auf lehmigem Grund gebaut, unter dem sich einem Gerücht zufolge die Leichen von 14 000 russischen Kriegsgefangenen befinden, die vor uns hier gewesen sein sollen und angeblich die Baracken errichtet haben. Deswegen werden sie auch die russischen Baracken genannt.

Schlechtes Essen und der Mangel am Lebensnotwendigsten sind die Gründe dafür, warum sich Häftlinge, wenn sie von der schweren Zwangsarbeit zurück ins Lager kommen, auf Regenpfützen stürzen und untereinander um jeden Tropfen Wasser im Schlamm kämpfen und warum sich überall im Lager Fleckfieber ausgebreitet hat. Heute wurden 450 Todesfälle gemeldet, die alle, so brüllt unsere Frinke, bis 5 Uhr morgens dokumentiert sein müssen. Wer einen Namen oder eine Zahl falsch schreibt, solle sich schon mal auf Block 25 gefasst machen. Wir wissen alle sehr genau, was es mit Block 25 auf sich hat. Auf der gegenüberliegenden Seite der Schreibstube befindet sich dieser furchtbare Todestrakt für diejenigen, die für die Vergasung vorgesehen sind und nur noch auf den Moment warten, in dem sie zum Lastwagen gebracht werden.

Sie liegen dort zerlumpt mitten in Schmutz, Exkrementen und Morast und halten sich krampfhaft an den Gittern der Barackenfenster fest, heulend und schreiend, in dem Wissen, dass bald ein Lastwagen vorfahren wird und SS-Männer, zusammen mit der Arbeitsdienstführerin Drechsler und drei bis vier Helferinnen, sie auf den Lkw laden, zur Gaskammer und danach zum Krematorium bringen werden. Jeder weiß, dass alle, die einmal in Block 25 gelandet sind, das Lager nie wieder verlassen. Bevor sie vergast werden, müssen sie grausame Qualen erleiden. Es hängt ein süßlicher, ekelhafter Geruch von Leichen in der Luft, die auf dem Hof am Eingangstor liegen. Nachts sehe ich immer aus dem Fenster der Schreibstube. Um 22.30 Uhr fährt ein Lastwagen mit SS-Männern vor, und man kann die schrecklichen Schreie der Opfer hören, die auf die Ladefläche geworfen, mit Gewehren und Gummiknüppeln traktiert, an Haaren und Beinen gezerrt werden. Man hört auch das Lachen der SS-Männer, die für solche Einsätze in der Regel mit zwei bis drei Litern Branntwein ausgerüstet werden. Durch das quadratische Fenster habe ich gesehen, wie das gesamte Lager und der elektrische Zaun mit seinen weiß gestrichenen Pfosten und den über das Gelände verteilten 35 Posten in ihren Wachhäuschen nachts vom Scheinwerferlicht angestrahlt wurden. Man konnte die aufheulenden Motoren der Lkw hören, die vorfuhren und voll beladen wieder abrückten, bis der gesamte Block 25 geleert war.

Aber am Morgen beim Zählappell, kurz bevor die Gruppen zur Arbeit ausrückten, war er schon wieder gefüllt und wartete mit seiner Fracht darauf, die Kamine, die Tag und Nacht in Betrieb sind, zu füttern. In Auschwitz gab es fünf solcher Kamine, die die unschuldigen Opfer verschlingen und vollständig zermahlen. Die Schornsteine spucken nur noch ihre Asche aus, die entsprechend der wirtschaftlichen Pragmatik der Deutschen zu Dünger gemacht wird.