Dok. 13-315

Der stellvertretende Vorsitzende der Nationalversammlung Pešev und 42 Abgeordnete der Regierungsmehrheit Bulgariens protestieren am 17. März 1943 beim Ministerpräsidenten gegen die Deportation


Sehr geehrter Herr Ministerpräsident, das Gefühl großer historischer Verantwortung

Sehr geehrter Herr Ministerpräsident, das Gefühl großer historischer Verantwortung

Orte
  • Grenze Staatsgrenzen von 1937
Personen

Dimităr Josifov Pešev (1894–1973), Jurist; 1920–1936 Richter und Rechtsanwalt in Plovdiv und Sofia, 1936/37 Justizminister, von 1939 an Abgeordneter der regierenden Mehrheit, 1940–1943 stellv. Vorsitzender der Nationalversammlung; 1945 vom Volksgericht zu 15 Jahren Haft verurteilt, nach eineinhalb Jahren entlassen, danach Berufsverbot.

 

Skript

Sehr geehrter Herr Ministerpräsident,
das Gefühl großer historischer Verantwortung, das wir in den schicksalhaften Augenblicken, die unser Volk durchlebt, empfinden, sowie unsere Ergebenheit gegenüber der Politik und der Regierung und unser Wunsch, zu ihrem Erfolg alles Erdenkliche beizutragen, verleihen uns den Mut, uns an Sie zu wenden in der Hoffnung, dass Sie unseren Schritt als Zeichen unserer guten Absicht und Ehrlichkeit begrüßen werden.
Gewisse Anordnungen in letzter Zeit lassen darauf schließen, dass gegen Personen jüdischer Abstammung erneute Maßnahmen beabsichtigt und durchgeführt werden sollen. Um was es sich im Einzelnen handelt und auf welcher Grundlage sie ergriffen werden, welche Ziele sie verfolgen und was sie erforderlich macht, dazu gibt es von den verantwortlichen Stellen bislang keine Erklärungen. Der Herr Innenminister hat in einem Gespräch mit einigen Abgeordneten sogar bestätigt, dass gegen die Gesamtheit der Juden aus den alten Gebieten keinerlei neue Maßnahmen bevorstünden. Tatsächlich erfolgte daraufhin die Aufhebung aller entsprechenden Anordnungen. Indem wir dies sowie einige in Umlauf befindliche Gerüchte zum Anlass nehmen, wenden wir uns an Sie, weil allgemeine Maßnahmen mit Sicherheit vom Beschluss des Ministerrats abhängig sind. Unsere einzige Bitte ist, bei Unternehmungen dieser Art auf die derzeitigen tatsächlichen Bedürfnisse des Landes zu achten, wobei das Ansehen des Volkes und seine moralischen Auffassungen nicht außer Acht gelassen werden sollten.
Wir werden uns also nicht gegen Maßnahmen wenden, die derzeit aus Gründen der Landessicherheit erforderlich sind, eingedenk der Tatsache, dass jeder, der augenblicklich direkt oder indirekt die Bemühungen von Staat und Volk hemmt, unschädlich gemacht werden muss. Es geht also um den Erfolg einer Politik, die mit unserer Billigung und Unterstützung umgesetzt wird, einer Politik, für die wir bewusst und voller Stolz unser ganzes Prestige und Kapital eingesetzt haben.

Unbestreitbar muss der Staat alle Hindernisse beseitigen, die diesem Erfolg im Wege stehen, allerdings nur solange dabei die Grenzen der tatsächlichen Bedürfnisse nicht überschritten werden und der Staat nicht in überflüssige und grausame Extreme verfällt. Das beinhaltet alle Maßnahmen, die sich gegen Frauen, Kinder und Alte richten, soweit ihnen kein individuelles Vergehen vorgeworfen werden kann.

Wir können uns beispielsweise nicht vorstellen, dass die Verschickung dieser Menschen über die Grenzen Bulgariens geplant ist, wie ein böswilliges Gerücht es der bulgarischen Regierung unterstellt. Eine solche Maßnahme wäre nicht nur inakzeptabel, weil die Betroffenen nach wie vor die bulgarische Staatsbürgerschaft besitzen und deshalb gar nicht fortgejagt werden können, sondern weil dies auch mit negativen politischen Folgen für das Land verbunden wäre. Das Schandmal, das Bulgarien damit an der Stirn klebte, wäre nicht nur eine unverdiente moralische Belastung, sondern das Land würde sich aller Argumente entledigen, die es auf internationaler Ebene sicherlich einmal zu seinen Gunsten ins Feld führen müsste. Kleinere Völker haben nicht die Freiheit, dies zu missachten, weil, was auch immer geschehen mag, darin eine starke, vielleicht sogar die stärkste ihnen zur Verfügung stehende Waffe liegt. [...]

Die geringe Anzahl der Juden in Bulgarien und die Stärke des gesetzlich so gut gerüsteten Staates garantieren die Eliminierung aller gefährlichen und schädlichen Elemente, aus welchem Milieu sie auch kommen mögen. Es ist nach unserer tiefen Überzeugung also völlig überflüssig, zu neuen außerordentlichen und dazu überaus grausamen Maßnahmen zu greifen, Maßnahmen, die den Vorwurf des Massenmords nach sich ziehen könnten. Dies würde in erster Linie die Regierung belasten, aber sich darüber hinaus sicher auch ungünstig für Bulgarien auswirken. Die Folgen sind einfach vorauszusehen, deshalb darf eine solche Situation erst gar nicht eintreten.

Wir werden dafür jedenfalls in keiner Weise die Verantwortung übernehmen.

Eine grundlegende Rechtsordnung ist zum Regieren ebenso notwendig wie die Luft zum Atmen.

Die Ehre Bulgariens und seines Volkes ist nicht nur eine Frage von Gefühlen, sie ist vor allem ein Teil der Politik. Sie ist politisches Kapital von höchstem Wert, weshalb es niemandem gestattet werden kann, sie ohne Rechtfertigung aufs Spiel zu setzen. Diese Ansicht teilt auch unser ganzes Volk.

Nehmen Sie, Herr Ministerpräsident, unsere vorzügliche Hochachtung entgegen.