Dok. 11-274

Egon Redlich schreibt am 6. September 1944 zum letzten Mal in das Tagebuch für seinen Sohn Dan

Eines deiner Spiele: Ich hebe dich hoch, und du zappelst mit

Eines deiner Spiele: Ich hebe dich hoch, und du zappelst mit

Orte
  • Grenze Staatsgrenzen von 1937
  •  
Personen

Egon (Gonda) Redlich (1916–1944), bis 1939 Jurastudent; seit 1939 an einer zionistischen Mittelschule in Prag tätig und Leiter des Makkabi Hatzair; Dez. 1941 Deportation nach Theresienstadt, dort Leiter der Jugendfürsorge, am 23.10.1944 wurde er mit seiner Ehefrau Gertruda, geb. Bäcková (1916–1944), und seinem Sohn Dan nach Auschwitz deportiert und dort ermordet.

Skript

Theresienstadt

 

Eines deiner Spiele: Ich hebe dich hoch, und du zappelst mit den Beinen wie ein Fisch auf dem Trockenen. Dann nähere ich mein Gesicht dem deinen, und du schaust mich mit großer Verwunderung an. Lerne, mein Sohn, in den Gesichtern der Menschen zu lesen. Denn in ihre Gesichtszüge ist alles eingraviert: Klugheit oder Dummheit, Wut oder Gleichmut, Freude oder Trauer, Ehrlichkeit oder Verlogenheit – alles, alles.

Es wird ein Film über das Leben im Getto gedreht, ein schöner Film. Sie haben angeordnet, die beiden besseren Jugendheime zu räumen. Aber vor ihrer Räumung wurden die Häuser mit den „fröhlichen“ Kindern gefilmt. Es soll ein Film vom Leben im Getto werden, in dem die Juden freudig und sorglos leben und „feiern und das Tanzbein schwingen“. (Tatsächlich wurden Juden dabei gefilmt, als sie im „Salon“ tanzten.) Auch dich wollten sie filmen, um eine glückliche Familie vorzuführen. Zum Glück wurde dieses Vorhaben nicht in die Tat umgesetzt. Denn selbst wenn anstelle einer Fotografie ein solcher Film eine schöne Erinnerung von dir als Baby hätte sein können, wäre er trotzdem Schmach und Schande. Die ägyptischen Könige haben auch keine Kinder gefilmt, bevor sie sie töteten.

Wir haben einen neuen Kinderwagen für dich gekauft. Der Verkäufer war einmal mein Mitarbeiter und wollte mir den Kinderwagen kostenlos überlassen, um mich zu bestechen. Für den Kinderwagen haben wir bezahlt:

1 kg Zucker,

1 kg Margarine,

2 Büchsen Sardinen.

Was wird nun werden? Morgen werden wir abtransportiert, mein Sohn. Morgen werden wir abtransportiert wie Abertausende vor uns. Für den Transport haben wir uns nicht registriert wie sonst üblich. Aus nicht bekannten Gründen wurde angeordnet, uns in den Transport aufzunehmen. Aber lass es gut sein, mein Sohn! Unsere ganze Familie ist in den vergangenen Wochen bereits fortgegangen. Wir und deine Cousine sind als Einzige zurückgeblieben. Es sind dein Onkel, deine Tante und deine liebe Großmutter fortgegangen. Deine Großmutter, die für dich, für uns alle, von morgens bis abends gearbeitet hat. Der Abschied von ihr ist besonders schwergefallen. Hoffentlich werden wir sie dort wiedersehen. Anscheinend haben sie vor, das Getto zu liquidieren und nur Alte und Mischlinge zurückzulassen.

Wir hatten in jeder Generation grausame Feinde. Aber in unserer Generation ist der Feind nicht nur grausam, sondern auch voller Arglist und Heimtücke. Sie machen Versprechungen und halten sie nicht ein. Sie verschicken kleine Kinder und lassen ihre Kinderwagen hier zurück. Sie reißen die Familien auseinander: Mit einem Transport wird der Vater verschickt, mit dem zweiten der Sohn und mit dem dritten die Mutter. Morgen werden auch wir abtransportiert werden, mein Sohn. Möge unsere Erlösung bald kommen.