Dok. 11-092

Eine Schweizer Jüdin beschreibt nach ihrer Ausreise im Oktober 1943 die Deportationen aus Wien

Ich lebte seit meiner Jugend in Wien und blieb dort solang

Ich lebte seit meiner Jugend in Wien und blieb dort solang

Orte
  • Grenze Staatsgrenzen von 1937
  •  
Personen

Hauptmann May und Oberst Reichert; die Führer des ehemaligen Bund jüdischer Frontkämpfer.

 

Alois Brunner (1912–2001), Kaufmann; 1931 NSDAP- und SA-Eintritt; 1933–1938 Mitglied der Österreichischen Legion; 1938 SS-Eintritt; 1938–1942 Mitarbeiter der Zentralstelle für jüdische Auswanderung in Wien, seit 1941 als Leiter; 1942 SS-Hauptsturmführer; von 1941 an organisierte er die Deportationen aus Wien, Berlin, Saloniki, Frankreich und der Slowakei mit; nach Kriegsende tauchte er unter und floh nach Syrien.

Skript

Bericht einer im Oktober 1943 aus Wien in die Schweiz angekommene Jüdin (Schweizer Staatsbürgerin)

Ich lebte seit meiner Jugend in Wien und blieb dort solang als möglich, um bei meinem Vater zu bleiben. Seine Deportierung fand im August 1942 statt, auch wollte ich noch das restliche Vermögen so gut als möglich liquidieren. Zur Zeit meiner Abreise, so schätze ich, war die Zahl der in Wien lebenden Juden auf ca. 6000 gesunken. Ein weiterer großer Teil lebte versteckt unter fremdem Namen, die Zahl dieser Personen ist schwer zu erfassen. Alle Juden leben konzentriert im 2. Bezirk, und es sind hauptsächlich die in Mischehen lebenden, die bisher von der Deportierung verschont blieben, soweit die Ehen nicht vorher geschieden waren. Außerdem gewisse als unentbehrlich angesehene Personen. Die Deportierungen begannen zuerst ganz willkürlich und wild, und es wurde den Menschen kaum 1 Tag zur Vorbereitung gelassen. Die Aufforderung erfolgte durch die Beamten der Kultusgemeinde. Später wurden die Deportierungen nach Buchstabe vorgenommen und eine Frist von 8 Tagen zur Erledigung ihrer Sachen gelassen. Die Sammlung erfolgte in 2 Gruppen, und zwar in der Schule in der Sperlgasse und in der Malzgasse, im ehemaligen Kinderheim. Angeblich sollen die in der Sperlgasse Gesammelten nach Polen und die in der Malzgasse konzentrierten nach Theresienstadt deportiert worden sein. Zu dieser Zeit wohnten meistens in einem Zimmer 4 bis 5 Personen. Die Juden bekamen die rationierten Artikel gleich den Ariern mit Ausnahme von Fleisch und Mehl. Brot durfte erst abgegeben werden, bis keines mehr für Arier notwendig war, das heißt also nur altes Brot. Um die versteckten Juden zu eruieren, die natürlich keinen Davidstern trugen, wurden sogenannte jüdische Gestapodetachements gebildet, die die Aufgabe hatten, in den Straßen und Kaffeehäusern Razzien auf solche Personen zu veranstalten und zur Anzeige zu bringen. Diese jüdischen Gestapobeamten hatten eigene Legitimationen und brauchten nicht das Judenabzeichen tragen. Die Transporte erfolgten auf offenen Autos mit Gepäck, und die Bevölkerung verhielt sich bei diesen Auszügen aus der Leopoldstadt teils passiv, teils bildeten sie Spalier und begleiteten die Abtransporte mit Applaus. Die Transporte gingen alle vom Aspanghof ab und erfolgten in normalen Personenwaggons. Eine Zeitlang wurden von der Schweizerischen Gesandtschaft Einreisevisen auf Grund der Intervention hiesiger Verwandter gegeben. Die Personen, die solche Visa erhielten, wurden aber noch am selben Tag von der Gestapo abgeholt und sofort deportiert. Unter anderem wurde auch ein 5jähriger Junge, der von seinem Vater hier ein Visum erhalten konnte, in der Nacht abgeholt und von der Mutter getrennt, um mit einem sogenannten Kindertransport verschickt zu werden. Nach langem Mühen konnte es die Mutter durchsetzen, mit dem Kind zusammen verschickt zu werden. Mein Vater wurde mit dem 37. Transport deportiert, ich glaube nach Theresienstadt, zusammen mit ihm die Führer des ehemaligen Verbandes jüdischer Frontkämpfer (Hauptmann May und Oberst Reichert). Ich selbst wurde des öfteren zum Gestapo-Hauptsturmführer Brunner vorgeführt, und es wurde mir nahegelegt, Wien schleunigst zu verlassen, wenn mir nicht das Schicksal meines Vaters blühen sollte. Die Schweizerische Gesandtschaft riet mir, Wien zu verlassen, da sie keine Garantie für meine Sicherheit übernehmen konnte.