Dok. 10-282

Jakub Poznański notiert in seinem Tagebuch zwischen Januar und März 1945 die Erlebnisse unmittelbar nach der Befreiung des Gettos Litzmannstadt durch die Rote Armee

Heute Morgen gab es einen gewöhnlichen, aber sehr verspäteten

Heute Morgen gab es einen gewöhnlichen, aber sehr verspäteten

Orte
  • Grenze Staatsgrenzen von 1937
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Personen

Jakub Poznański (1890–1959), Ingenieur, Chemiker; von Febr. 1940 bis Febr. 1945 im Getto Litzmannstadt, führte dort ein Tagebuch; überlebte zusammen mit seiner Frau und seiner Tochter und lebte nach dem Krieg erneut in Łódź.

 

Lajb Bruder, von Herbst 1944 an Kommandant des jüdischen Ordnungsdienstes im Getto Litzmannstadt.

Skript

17. Januar 1945, Mittwoch

Heute Morgen gab es einen gewöhnlichen, aber sehr verspäteten Appell. Es erschienen wenige Deutsche, da die meisten unserer Aufseher zum sogenannten Volkssturm einberufen worden sind. Dennoch wurden alle unsere Gruppen zur Arbeit geschickt.
Im Laufe des Tages gab es zwei Luftangriffe. Die Repräsentanten des Herrenvolkes kommen nicht mehr zur Ruhe. Sie laufen blass und niedergedrückt herum, fahren ständig in die Stadt und zurück. Augenscheinlich packen sie ihre Siebensachen ...

Gegen 18 Uhr kam Kommandant Bruder ins Lager und gab bekannt, dass am Donnerstag auf Befehl der Behörden ein Generalappell stattfinden werde. Anwesenheit sei zwingend erforderlich, nicht nur der Bewohner des Lagers, sondern auch der Telefonistinnen und Fuhrleute außerhalb des Lagers.

Wir schlossen aus diesen Worten, dass etwas Schlimmes bevorstehe. Schon eine Stunde später verließen die Leute in Scharen das Lager. Wir folgten ihrem Beispiel, das sagte uns der gesunde Menschenverstand und Selbsterhaltungstrieb. Die Erfahrung der letzten Monate hat uns gelehrt, dass nur der gewinnt, der sich versteckt.

Wir verstecken uns in einem Keller in der Żydowska-Straße 10. Unser neues Verlies ist zwölf Meter tief. Noch im Sommer haben wir Bänke und Tische und sogar Bettwäsche hierhergebracht. Eine einzige Glühbirne, die mit der Hauptleitung verbunden ist, gibt ein wenig Licht.

Dies ist ein Versteck, das wir im August vorigen Jahres hatten benutzen wollen, bevor wir uns entschieden, einen Unterschlupf im Papierressort zu suchen. Wir sind nicht alleine hier. Uns begleitet eine große Gesellschaft – mehr als vierzig Menschen. Wir alle klappern mit den Zähnen vor Angst und Kälte, obwohl jeder von uns mindestens zwei Schichten Kleidung und doppelte Unterwäsche trägt. Uns ist klar, dass die Deutschen vorhaben, uns vor ihrem Auszug aus Łódź zu massakrieren.

In unserem Verlies herrscht Totenstille. Wir schlafen abwechselnd. Nacht. Zehn Uhr.

 

18. Januar 1945, Donnerstag

Wir saßen den ganzen Tag über auf einem Koffer, den wir noch im November ins Verlies gebracht hatten, kurz bevor wir ins Lager zogen. Wir haben einen Wasservorrat – etwa 600 Liter. Wir haben beschlossen, dass jeder von uns drei Glas Wasser pro Tag erhält.

In unseren gemeinsamen Vorrat ist auch all unser Fett gekommen: Öl, Butter und Margarine. Morgens verteilen wir die „Lebensmittelrationen“ für den ganzen Tag.
Unsere Nervosität übersteigt die Grenze des menschlich Erträglichen. Ständig scheint es uns, dass die Deutschen im Hof sind und uns suchen. Natürlich haben wir unseren eigenen Nachrichtendienst: einige flinke Jungen. Im Morgengrauen zogen sie zur Jakub- Straße 16 und trieben 18 Brote auf.

Wasser tropft von den Verlieswänden herunter. Ein Streichholz erlischt sofort – ein Hinweis, dass es zu wenig Sauerstoff im Versteck gibt. Wie lange werden wir es hier aushalten?!
In diesem Moment kamen die Jungen zurück und waren sehr verängstigt. Sie waren ein zweites Mal im Lager gewesen und hatten Lastwagen auf den Platz fahren sehen. Unseretwegen ...

Sie belauschten ein Gespräch der Deutschen. Sie wollen uns zum Jüdischen Friedhof bringen, wo sie vor einer Woche neun große Gräber haben ausheben lassen – jedes für hundert Menschen ...
Jeden Moment wird die Suche beginnen ...

Wenn sie unser Versteck finden, werde ich diese Hefte im Verlies zurücklassen – vielleicht wird das unsere letzte Spur sein ...

 

19. Januar 1945, Freitag

Heute um elf Uhr vormittags kam der ersehnte Moment: Wir sind frei!