Dok. 10-266

Jakub Poznański beschreibt in seinem Tagebuch im August 1944 die Auflösung des Gettos Litzmannstadt und die Deportationen ins KZ Auschwitz

Gestern platzte erneut eine „große Bombe” im

Gestern platzte erneut eine „große Bombe” im

Orte
  • Grenze Staatsgrenzen von 1937
  •  
Personen

Jakub Poznański (1890–1959), Ingenieur, Chemiker; von Febr. 1940 bis Febr. 1945 im Getto Litzmannstadt, führte dort ein Tagebuch; überlebte zusammen mit seiner Frau und seiner Tochter und lebte nach dem Krieg erneut in Łódź.

 

Marek, auch Mordechai Kligier (*1893 oder 1898), Textilmeister; im Getto Litzmannstadt von Sept. 1940 an Verwaltungsleiter der Sonderabt., von Juli 1943 an ihr Leiter; er wurde im Okt. 1944 nach Sachsenhausen und weiter in das Arbeitslager Königs Wusterhausen deportiert, dort befreit; 1947 vor einem jüdischen Ehrengericht wegen angeblicher Spitzeltätigkeit für die Gestapo angeklagt; nach dem Freispruch emigrierte er nach Südafrika.

 

Mordechai Chaim Rumkowski (1877–1944), Kaufmann; vor 1939 als Zionist im Vorstand der Jüdischen Gemeinde in Łódź tätig; im Okt. 1939 zum Ältesten der Juden in Łódź bestimmt, 1940–1944 Leiter der jüdischen Verwaltung im Getto Litzmannstadt; er wurde im Aug. 1944 nach Auschwitz deportiert und dort ermordet.

 

Aron Josif Jakubowicz (1910–1981), Kaufmann; lebte vor dem Krieg in Łódź; im Getto zunächst kaufmännischer Angestellter der Gemeinde, dann Leiter des Zentralbüros der Arbeitsressorts und Stellv. des Judenältesten; im Aug. 1944 nach Auschwitz deportiert, im Okt. nach Sachsenhausen, weiter nach Königs Wusterhausen; wanderte nach dem Krieg in die USA aus.

 

Hans Biebow (1902–1947), Kaufmann; 1937 NSDAP-Eintritt; Kaffeehändler in Bremen, zwischen Mai 1940 und 1944 Leiter der Ernährungs- und Wirtschaftsstelle, später umbenannt in Getto- Verwaltung Litzmannstadt, organisierte den Arbeitseinsatz der Gettobewohner für die deutsche Kriegswirtschaft und die Deportation der arbeitsunfähigen Juden nach Kulmhof bzw. nach Auschwitz-Birkenau; 1947 in Łódź zum Tode verurteilt und hingerichtet.

 

Dr. Otto Bradfisch (1903–1994), Jurist; 1931 NSDAP-, 1938 SS-Eintritt; von 1937 an bei der Gestapo, SS-Obersturmbannführer; 1941 Kommandoführer des EK 8 der Einsatzgruppe B der Sicherheitspolizei und des SD in Weißrussland, das bis Frühjahr 1942 über 60 000 Juden ermordete; von April 1942 an Leiter der Staatspolizeileitstelle Litzmannstadt, von Sommer 1943 an auch kommissarischer OB von Litzmannstadt; 1963 zu 13 Jahren Haft verurteilt, 1969 entlassen.

 

Erich Victor Czarnulla (1902–1948), Kaufmann; Angestellter der deutschen Getto-Verwaltung in Litzmannstadt, Leiter der beiden Metallabt. und der Beschaffungsabt. für Wehrmachtsaufträge; im Nov. 1946 von den USA an Polen ausgeliefert, in Łódź im Okt. 1947 zum Tode verurteilt und im März 1948 hingerichtet

Skript

Handschriftl. Tagebuch

 

Gestern platzte erneut eine „große Bombe“ im Getto. Um 15 Uhr verbreitete sich die Nachricht von der Evakuierung des gesamten Gettos zusammen mit der Stadt Litzmannstadt. Aber ich will alles der Reihe nach erzählen, wie sich die Ereignisse abgespielt haben.

Gestern um 13 Uhr wurden Kligier, Rumkowski und Jakubowicz zum 6. Polizeirevier (die deutsche Polizei, die die Gettogrenzen bewacht) auf dem Baluter Ring gerufen. Dort wurde ihnen mitgeteilt, dass am Donnerstag, den 3. des Monats die Evakuierung der Stadt Litzmannstadt und des Gettos beginnen werde. Das Getto müssten täglich 5000 Personen verlassen, zusammen mit den Maschinen und Waren. Ihnen wurde aufgetragen, einen entsprechenden Plan auszuarbeiten. Rumkowski soll angeblich gesagt haben, dass er die schwierigsten Aufgaben für die deutschen Behörden erledigt habe, dass er einen solchen Plan aber nicht vorlegen werde. Darauf wurde ihm wohl geantwortet, dass man ihm in diesem Falle am Mittwoch um 12 Uhr einen Plan vorlegen werde.

 

4. August 1944

Seit drei Tagen herrscht große Panik im Getto. Bis zum 2. August um 12 Uhr mittags gab es für das Getto keinen Evakuierungsplan. Für 13 Uhr wurden alle Leiter und Kommissare des Schneider- und der Metallressorts in Biebows Büro bestellt, wo sich der Chef der Gestapo Litzmannstadt Stiller, Biebow, Czarnulla von der Gettoverwaltung und ein junger Mann befanden, der sich als Vertreter des Reichsrüstungskommandos vorstellte. Dieser teilte den Anwesenden mit, dass der Stand des Krieges eine Verlagerung der Ressorts erforderlich mache, in erster Linie der Metall- und Schneiderressorts (die Tischlereiressorts haben für eine Woche einen Auftrag für besondere Behälter), weg von der Front und ins Innere des Reichs. Der erste Transport soll am Donnerstag, 3. August 1944, um 7 Uhr früh abgehen, der zweite am Mittag, insgesamt sollen 5000 Menschen täglich abfahren. Am Donnerstag sollte das Metallressort los, aber angesichts der Erklärung des Leiters des Metallressorts I, dass er nicht fertig sein könne, hat Czarnulla beschlossen, dass Betrieb 1 und Betrieb 2 fahren, das heißt die Schneiderzentrale in der Łagiewnicka-Straße 45 und das Schneiderressort in der Łagiewnicka-Straße 34/36, die einschließlich der Familien 5000 Personen ausmachen. Hinsichtlich der Maschinen wurde angeordnet, die mit elektrischem Antrieb mitzunehmen, die hand- oder fußbetriebenen jedoch zurückzulassen. Die Waren sind mitzunehmen.

 

12. August 1944

Wir haben schreckliche Tage erlebt, waren aber durch die aktuellen Dinge so beschäftigt, dass ich keine Zeit hatte, hier hineinzuschauen.
Am Mittwoch zwischen 20 und 21 Uhr erreichte uns die Nachricht, dass die Druckerei eine Bekanntmachung über die Schließung aller Betriebe und über die Umsiedlung der Bevölkerung von Donnerstag an vom westlichen Teil des Gettos zum östlichen drucke. Die Menschen wussten schon davon und flüchteten massenweise von jener auf diese Seite. Bis 2.30 Uhr früh haben wir Rucksäcke gepackt und waren noch nicht fertig, als um 3.30 Uhr ein uns bekannter Polizist klingelt und darum bittet, seine Mutter und Schwester mit ihren Sachen aufzunehmen, die von der anderen Seite geflüchtet sind. Um 5 Uhr stand ich auf und ging auf die Straße, um den Verkehr in Augenschein zu nehmen, den ich durchs Fenster gehört hatte. Es stellt sich heraus, dass es in unserer Straße eine Aktion geben wird und man massenweise von hier mit Rucksäcken flüchtet. Andererseits flüchtet die Bevölkerung von der anderen auf diese Seite des Gettos. Angesichts dessen beschlossen wir, uns im Ressort zu verstecken, schon um 5 Uhr trug ich einen Teil der Sachen dorthin. Ich traf dort schon zahlreiche Menschen an, die sich dort versteckten.

 

18. August 1944

Erst sechs Tage ist es her, dass ich die letzten Zeilen geschrieben habe, und so viele Dinge sind seitdem passiert, so viele Veränderungen, dass man sich gut erinnern muss, um sie ordentlich zu notieren. Also der Reihe nach.
Am Sonnabend dauerte die Aktion nur den halben Tag, vermutlich weil viele Menschen in den Lehmhütten der Ziegelei gefasst wurden. Und so konnte sich die Gettobevölkerung am Sonnabendnachmittag und den ganzen Sonntag über von diesem Alptraum erholen.

Gleichzeitig haben die Gettobehörden völlig den Kopf und die Kontrolle über die Ge- samtheit des Gettolebens verloren. Die Gemüseplätze, Gemeindeläden, Bäckereien, Apotheken und alle anderen Gemeindeeinrichtungen sind schon am Donnerstagabend gründlich ausgeraubt worden. Die Polizei war nicht in der Lage, den Sturm der Menge auf diese Einrichtungen aufzuhalten. Das von Rumkowski ausgegebene Geld hat seinen Wert vollständig verloren, sein Wert beträgt Null. Nichts kann man mit dem Geld kaufen. Es gibt kein Brot in den Läden, denn niemand ist da, der es anliefern könnte.

 

20. August 1944, Sonntag

Ich muss nun auch den Wochentag notieren, um nicht zu vergessen, welchen Tag wir gerade haben, weil wir andernfalls den Überblick verlieren. Der gestrige Sonnabend verlief völlig ruhig. Im Getto gab es keine Aktion. Auf der Żydowska-Straße, die aus dem Getto ausgegliedert worden ist und auf die die Fenster meines Verstecks hinausgehen, war den ganzen Tag über mit kleinen Pausen Verkehr. Die Menschen gingen in ihre Wohnungen, um den Rest ihrer Habe zu holen, auf den Gemüseplatz (Żydowska-Straße 8) oder in unser Ressort, um Kartoffeln abzuholen. Gegen 11, 12 Uhr vormittags kam ein Wagen mit Luftreifen und sammelte die Kranken aus dem ganzen Stadtteil ein. Aus unserer Straße wurden einige Frauen mitgenommen. Um 18 Uhr fuhr der Wachtmeister und Leiter der Getto-Feuerwehr Kaufmann zur Inspektion der Posten auf einem Motorrad vorbei.

 

21. August 1944, Montag

Heute ist der vierte Tag unseres freiwilligen Gefängnisses. Schon gegen 8 Uhr waren die Stimmen jüdischer Polizisten und Feuerwehrleute zu hören, die mit Brechstangen, Äxten und Hämmern verschlossene Wohnungstüren und Fenster aufbrachen. Nach einiger Zeit gingen zwei deutsche Polizisten durch das Haus und durchsuchten nur oberflächlich die vorderen Parterrewohnungen. Nach ihrem Weggang brachen die jüdischen Polizisten und Feuerwehrleute für einige Zeit weiter verschlossene Wohnungen auf. Damit war die ganze Aktion in unserem Straßenviertel beendet. Den ganzen Tag über war es sehr ruhig, sehr wenig Verkehr. Es war aber zu sehen, dass diejenigen, die auf der Straße gingen, aus jenem Gebiet kamen. Ich weiß nicht, ob es heute überhaupt eine „Werbeaktion“ für den Abtransport gab.

Die nicht kasernierte Gettobevölkerung erhält weder Lebensmittel noch Brot und muss nach den theoretischen Berechnungen des Herrn Rumkowski von der Luft zum Atmen leben. Dagegen erhalten die Kasernierten etwas bessere Rationen als gewöhnlich. Heute soll die Schwachstrom-Abteilung unter besseren Bedingungen abgefahren sein, in Personenwaggons, mit großem Gepäck und direkt nach Berlin. Es haben sich verschiedene Monteure und Elektromonteure angeschlossen, sogar Feinmechaniker.

Gestern habe ich erfahren, dass die Ostfront an dem für uns interessantesten Abschnitt, Warschau – Warka überhaupt nicht vorgerückt ist. Unsere ganze Hoffnung setzen wir auf eine rasche Einnahme Warschaus und die Ankunft der Russen in Łódź. Dass dies nur so rasch wie möglich passiere.