Dok. 10-149

Oskar Singer beschreibt am 16. September 1942 im Getto Litzmannstadt das fieberhafte Bemühen, Kinder und Alte vor der Deportation in das Vernichtungslager Kulmhof zu bewahren


Am 5. September wurde die Situation klarer. Das ängstliche

Am 5. September wurde die Situation klarer. Das ängstliche

Orte
  • Grenze Staatsgrenzen von 1937
  •  
Personen

Oskar Singer (1893–1944?), Rechtsanwalt und Journalist; von Nov. 1939 an Chefredakteur des Jüdischen Nachrichtenblatts; im Okt. 1941 zusammen mit seiner Frau Margarethe Singer, geb. Kornfeld (1894–1945), und seinen zwei Kindern nach Litzmannstadt deportiert, arbeitete im Getto in der Statistischen Abt. und leitete die Redaktion der Gettochronik; im Aug. 1944 zusammen mit seiner Familie nach Auschwitz deportiert, Todesort und -umstände sind unbekannt.

 

Mordechai Chaim Rumkowski (1877–1944), Kaufmann; vor 1939 als Zionist im Vorstand der Jüdischen Gemeinde in Łódź tätig; im Okt. 1939 zum Ältesten der Juden in Łódź bestimmt, 1940–1944 Leiter der jüdischen Verwaltung im Getto Litzmannstadt; er wurde im Aug. 1944 nach Auschwitz deportiert und dort ermordet.

 

Hans Biebow (1902–1947), Kaufmann; 1937 NSDAP-Eintritt; Kaffeehändler in Bremen, zwischen Mai 1940 und 1944 Leiter der Ernährungs- und Wirtschaftsstelle, später umbenannt in Getto- Verwaltung Litzmannstadt, organisierte den Arbeitseinsatz der Gettobewohner für die deutsche Kriegswirtschaft und die Deportation der arbeitsunfähigen Juden nach Kulmhof bzw. nach Auschwitz-Birkenau; 1947 in Łódź zum Tode verurteilt und hingerichtet.

Skript

Handschriftliche Notiz

 

Am 5. September wurde die Situation klarer. Das ängstliche Flüstern der letzten Tage wurde bedrohliche Wirklichkeit. Die Aussiedlung von Kindern und Alten hat reale Gestalt angenommen. Ein kleiner Zettel an den Mauern der belebten Stadtviertel kündigt die Rede des Präses in einer äußerst drängenden Sache an. Auf dem Platz der Feuerwehr dichtes Gedränge. Der „Älteste der Juden“ enthüllt den Wahrheitsgehalt der Gerüchte, immerhin handelt es sich um die Kleinen, die er so liebt, und um die Greise, denen er so viel Achtung entgegenbringt. „Es ist doch unmöglich, dass man Säuglinge von der Brust ihrer Mütter wegreißt und die alten Väter und Mütter irgendwohin verschleppt. Der Deutsche ist erbarmungslos, führt einen schrecklichen Krieg, doch er wird seine Grausamkeit doch nicht so weit treiben.“ Alle glauben dem Präses, hoffen auf seine beruhigenden Worte.

Der Repräsentant spricht. Seine Stimme versagt ihm den Dienst, die Worte bleiben ihm im Halse stecken. Seine Person ist auch ein Bild des Unglücks. Eines haben alle verstanden: 20 000 Menschen müssen das Getto verlassen, Kinder unter zehn und Greise über 65 Jahre. „Warum sind die Leute so verzweifelt? Das ist der Krieg. Anderswo trennt man auch Kinder und Alte von den Familien.“ Ja – anderswo! Anderswo werden diese Unglücklichen in gewisser Sicherheit das Ende der Katastrophe unter der Obhut ihrer Brüder, Schwestern, Verwandten abwarten. Welches Schicksal dagegen trifft die ausgesiedelten Juden? Niemand traut sich, danach zu fragen. Die Antwort würde wie das schrecklichste und brutalste Märchen klingen. Alle sind der festen Überzeugung, dass sie die ausgesiedelten Juden zur Vernichtung führen. Und deshalb hat diese Verwaltungsanordnung solch maßlose Verzweiflung hervorgerufen, deshalb hat dem im Allgemeinen unempfindlichen Präses die Stimme versagt, die Beredtheit, als er gezwungen war, seinen Brüdern mitzuteilen, dass der Beschluss der Behörden unwiderruflich ist.

Die Leute, die während der Rede des Präses nicht anwesend waren, stürzten sich auf Bekannte: Was hat euer „Ältester“ mitgeteilt? Kurze Antwort: „Unter zehn, über 65“ „Haben Sie das mit eigenen Ohren gehört?“ „Nein, das wurde mir erzählt.“

Es stellte sich plötzlich heraus, dass niemand Zeuge der Ansprache gewesen sein wollte. In Wirklichkeit gab es mehrere Tausend Zuhörer, die sich einige Augenblicke später in alle Richtungen zerstreuten, denn fast jeder hatte in seiner Familie jemanden unter oder über diesen tragischen Altersgrenzen. Die Menschen liefen wie wahnsinnig herum, um ihre Liebsten vor der Hinrichtung zu verstecken. Niemand jedoch wusste, wer die Aktion leiten wurde; die jüdische Polizei, die ins Getto abkommandierte Gestapo oder ein SS-Rollkommando. Mit Einverständnis der deutschen Verwaltung (Biebow) beschloss der Präses, die Aussiedlung im eigenen Bereich (mit eigenen Kräften) durchzuführen. Die jüdische Polizei sollte jüdischen Müttern ihre Kinder wegreißen, jüdischen Kindern ihre Eltern wegnehmen.

Es gab im Getto Einwohnerkarteien, ein Meldeburo, von den Hauswarten geführte Meldebücher; alle wurden nach Wohnvierteln, Straßen und Häusern registriert. Die Art und Weise der Anmeldung erinnerte an eine große westeuropäische Stadt.

Es war vorauszusehen, dass Eltern und Verwandte in dieser Situation eine Alterskorrektur der Kinder veranlassen wollten. Bis jetzt hatten Fehler und nicht berichtigte Ungenauigkeiten ihre Begründung. Das, was heute seine Daseinsberechtigung hat, kann morgen fatale Folgen haben. Es gab die Tendenz zur Erhöhung des Alters der Kinder, weil ein Kind ab dem zehnten Lebensjahr arbeiten und somit eine Suppe erhalten konnte. Andere Eltern setzten das Alter herab, weil ein kleineres Kind Chancen auf eine Milchzuteilung hatte. Gestern waren Suppe und Milch von großer Bedeutung, heute war es eine Lebensfrage.

Auch das Alter der Greise wurde aus verschiedenen Gründen verschoben.

Es begann eine unglaubliche Wanderung zum Meldeamt. In der Registratur für Todesfälle spielten sich Szenen ab, die kein Tragiker wiederzugeben imstande wäre. Die Beamten versuchten, die Situation in den Griff zu bekommen. Sie arbeiteten ohne Pause Tag und Nacht. Der Andrang der Menschen von den Schaltern bis zu den Schreibtischen wurde immer größer. Die Antragsteller schreien, weinen, wüten. Jede Sekunde kann ein Urteil mit sich bringen, und ganze Stunden vergehen im Kampf entfesselter Leidenschaften.

Jeder sucht einen Beschützer, um zu einem rettenden Schreibtisch zu gelangen. Neue Dokumente, alte vergilbte Papiere, aufgefundene Geburtsurkunden, Reisepässe, Legitimationen, echte und gefälschte, sollen beweisen, dass das Kind älter und der Greis jünger ist.

Bereits am Samstag trat die Gestapo in Aktion, ohne sich um diese fieberhafte Arbeit zu kümmern, die am Kościelny-Platz vor sich ging. Alle hatten erwartet, dass der Ordnungsdienst versagen wurde. Er sollte diese Henkersarbeit nicht allein verrichten. (Müttern ihre Kinder wegnehmen!)

Der Präses demoralisierte die jüdischen Polizisten. Er garantierte ihren eigenen Kindern Sicherheit, damit sie voller Härte fremde Kinder aus der Umarmung ihrer Mütter wegreißen. Ja, das ist eine Entartung des Gettogeistes.

Jede Mutter wirft sich auf den Polizisten mit einem Messer, einer Axt in der Hand. Sie lässt sich eher selbst umbringen, als ihr Kind zu opfern. Sie halten die Kinder mit letzter Mühe, schlagen mit Fäusten auf die Polizisten ein, „gebt eure eigenen Sprösslinge dem Tod, ich gebe meine nicht her“. Der Ordnungsdienst des Präses zeichnet sich nicht durch besondere Empfindlichkeit und Großherzigkeit aus, aber mancher von ihnen weint irgendwo in einem Winkel des Hofes: Es weinen Mutter, Kind und der Henker. Wo ist der Dichter, dessen Phantasie solche Klagen schaffen könnte?

Die auf den Wagen geladenen Kleinen verhalten sich ruhig, resigniert oder fröhlich – je nach Alter. Fast zehnjährige Jungen und Mädchen, Kinder des Gettos, sind schon erwachsene Menschen, die bereits Elend und Leid kennen. Die jungen Menschen schauen mit offenen Augen um sich und wissen nicht, was sie tun sollen. Sie befinden sich auf einem Wagen, zum ersten Mal in ihrem Leben auf dem Wagen, der von einem echten, einem wirklich echten Pferd gezogen wird. Ja, aus dieser Perspektive eine fröhliche Reise. Manch einer der Kleinen springt vor Freude auf die Pritsche des Lastwagens, so lange es noch Platz gibt, während seine Mutter dem Wahnsinn nahe auf dem Straßenpflaster liegt und sich aus Verzweiflung die Haare ausreißt. Der Präses hat allgemeinen Arrest angeordnet, der am Sonntag um 5 Uhr nachmittags in Kraft trat. Opponenten drohte die Aussiedlung.

Die Stadt ist ausgestorben. Die Straßen belebt hier und da der patroullierende Ordnungsdienst, Feuerwehrleute, ein Arzt oder Apotheker. Unfassbare Stille, tiefer als auf dem Friedhof in Marysin. Etwas Schreckliches hängt in der Luft. Die Stadtteile des Gettos, mit Brücken und Durchgängen verbunden, sind nun hermetisch abgeschlossen. Die Polizei beginnt ihre tägliche Arbeit auf der anderen Seite der beiden Brücken. Häuserblock nach Häuserblock wird umzingelt, Ausgänge verschlossen, es findet eine Hausdurchsuchung statt. Unbeschreibliche Tragödien.

Nach einiger Zeit atmet der Stadtteil ein wenig auf. Einige Hundert Personen wurden mitgenommen, weggeführt. Pflegepersonal begleitet die Wagen. Eine hoffnungslose, stumpfe Ruhe in den Höfen. Nur das Weinen der Menschen, die verloren haben, was ihnen das Teuerste war, dringt durch die geschlossenen Türen und Fenster. In den Abendstunden des Samstags verbreitete sich auf beiden Seiten der Brücken eine neue Nachricht: Die jüdische Polizei habe ihre Aufgabe nur unzureichend erfüllt. Die Deutschen würden die Sache nun in ihre eigenen Hände nehmen. Es gebe keine Altersgrenzen; Kranke, Erschöpfte, solche, die einen arbeitsunfähigen Eindruck machen – auf den Wagen!
Als der Ordnungsdienst im zweiten Revier (Alexanderhofstr., Zimmerstr., Blattbinder- gasse) „arbeitete“, erschienen Männer von der Gettoverwaltung und der Gestapo zur Kontrolle der Aktion. Sie stellten fest, dass bei diesem Tempo und bei Anwendung menschlicher Methoden das Kontingent zum angekündigten Termin nicht erreicht werden könne. „Es besteht Gefahr (in Verzug) für das Getto“, soll Biebow, der Chef des Gettos, gesagt haben. Und übernahm die Leitung der Aktion.

Der Ordnungsdienst wurde verstärkt durch die Feuerwehr und die sog. „Weiße Garde“, das heißt Mitarbeiter der Kolonialwarenabteilung. Sie alle erhielten „eiserne Briefe“, die ihnen die Sicherheit ihrer Kinder garantierten, und es begann der grausame Tanz bei lebendiger Begleitung. Unnötige Prozedur, Formalitäten, Kontrolle der Meldekarten, die deutsche Kommission, SS-Offiziere, Gewehre, automatische Pistolen, abgesperrte Straßen, zwei, drei Transportwagen, einige Schüsse in die Luft und der scharfe Befehl: „Alle raus“ in den Hof, die Wohnungen offenlassen.

Ohne Gepäck, ohne Wechselwäsche kamen die Unglücklichen zum Sammelpunkt auf der Straße oder im Hof. „Mützen ab, Kopf hoch.“ Die Kopfbedeckung kann einen den Kopf kosten, eine schlechte Haltung ist ebenfalls gefährlich. Arme, alte Juden! Die erschöpften, gebrochenen, kranken Figuren des Gettos müssen steif aufgerichtet stehen. Mit brutalstem Griff zerrt der Deutsche die Aufgedunsenen, Kraftlosen, Schwachen aus den Reihen. Mit einem Nicken beendet er die Sortierung des Materials: die auf der rechten Seite bleiben, die auf der linken – auf den Wagen. Niemand wehrt sich. Kein Protest der Angehörigen. Tödliche Stille, gestört nur von Schüssen.