Dok. 10-086

Der Judenrat im Getto Białystok skizziert am 5. April 1942 die Zukunftsaussichten des Gettos

Sehr geschätzte Versammlung! Es ist noch nicht die Zeit

Sehr geschätzte Versammlung! Es ist noch nicht die Zeit

Orte
  • Grenze Staatsgrenzen von 1937
  •  
Personen

Dr. Gedaliah Rozenman (1877–1943), Rabbiner; Rabbinerausbildung in Wien; seit 1920 Rabbiner der Jüdischen Gemeinde in Białystok, von Aug. 1941 an Vorsitzender des Judenrats im Getto Białystok; nach Auflösung des Gettos wurde er im Sept. 1943 in das KZ Lublin-Majdanek deportiert.

 

Efraim Barasz (1892–1943), Ingenieur und Geschäftsmann; Studium in Deutschland; während des Ersten Weltkriegs in Russland; von 1934 an in Białystok, Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde; von Aug. 1941 an stellv. Leiter des Judenrats im Getto Białystok, zugleich Leiter der Wirtschaftsabt.; wurde im Sept. 1943 zusammen mit seiner Frau Yokheved in das KZ Lublin-Majdanek deportiert.

Skript

Protokoll der Allgemeinen Versammlung im Saal von „Linas Hatsedek“

 

Der Vorsitzende Dr. Rozenman gibt das Wort an Ingenieur Barasz.
Herr Ingenieur Barasz: Sehr geschätzte Versammlung! Es ist noch nicht die Zeit, ein Resümee des Lebens im Getto zu ziehen. Wir wissen nicht, wo wir stehen. Ich will Euch heute kurz von allen Gefahren berichten, die wir durchgemacht haben, und von der Gefahr, die dem Getto noch bevorsteht.
Unsere Arbeit besteht in Prophylaxe, damit keine Krankheiten ausbrechen, denn wenn eine Krankheit erst einmal ausgebrochen ist, kann es schon zu spät sein, sie zu heilen. Unser ganzes Leben im Getto ist eine einzige Gefahr, man stellt uns ständig nach. Schlechte Taten Einzelner belasten die Allgemeinheit. Und die Allgemeinheit ist für jeden Einzelnen verantwortlich (Juden bürgen einer für den anderen).

Geehrte Versammelte! Die größte Gefahr bildet unsere verhältnismäßig große Bevölkerung – 35 000 Juden im Getto. Was tut man dagegen? Wie bewegt man sich am Rande des Abgrunds, ohne hineinzufallen?! –
Erstens: Die Forderungen der Behörden 100 Prozent loyal erfüllen. Zweitens: Persönlicher Kontakt, der uns die Möglichkeit gibt, verschiedene Missverständnisse aufzuklären. Drittens: Unsere Industrie, die sich von Tag zu Tag entwickelt und den Behörden die Nützlichkeit der Juden klar beweist. Alle, die in der Industrie arbeiten, retten sich selbst und das ganze Getto. Ihr habt von den großen Delegationen aus Berlin und Königsberg gehört. Wir haben uns bemüht, zu beweisen, dass das Getto unangetastet bleiben muss. Wir haben außerhalb des Gettos eine Ausstellung mit 500 Exponaten aus der Gettoproduktion zusammengestellt. Die Ausstellung macht einen sehr guten Eindruck, und das ist von großer Bedeutung sowohl für uns als auch für alle Juden. Ich habe aber auch Kritik an unserer Arbeit gehört. Wir engagierten uns zu stark, man solle auch an ein späteres Regime denken. – Dazu erkläre ich: Wir haben uns zum Ziel gesetzt, unser aller Leben zu retten. Wir müssen alles tun, was zu diesem Ziel führt. Was für ein Regime auch immer es in Zukunft geben wird, es wird sich doch nicht um unsere Probleme kümmern, sondern nur um seine eigene Politik. Einige Polen zum Beispiel verhalten sich teilweise jetzt schon nicht anständig gegenüber den Juden. Das sei den Leuten gesagt, die Beziehungen mit Polen unterhalten.