Dok. 10-019

Ein Mitarbeiter des Ringelblum-Archivs berichtet über die ersten Monate der deutschen Besatzung in Białystok bis zum Herbst 1941

Am vierten Tag nach Ausbruch des deutsch-sowjetischen Krieges marschierte die

Am vierten Tag nach Ausbruch des deutsch-sowjetischen Krieges marschierte die

Orte
  • Grenze Staatsgrenzen von 1937
  •  
Personen

Dr. Gedaliah Rozenman (1877–1943), Rabbiner; Rabbinerausbildung in Wien; seit 1920 Rabbiner der Jüdischen Gemeinde in Białystok, von Aug. 1941 an Vorsitzender des Judenrats im Getto Białystok; nach Auflösung des Gettos wurde er im Sept. 1943 in das KZ Lublin-Majdanek deportiert.

 

Dr. Sebastian Tilleman, Jurist; seit den 1920er-Jahren als Rechtsanwalt in Białystok tätig, in den 1930er-Jahren Stadtverordneter und Sekretär beim Präsidium des Stadtrats von Białystok; sein weiteres Schicksal ist ungeklärt.

 

Efraim Barasz (1892–1943), Ingenieur und Geschäftsmann; Studium in Deutschland; während des Ersten Weltkriegs in Russland; von 1934 an in Białystok, Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde; von Aug. 1941 an stellv. Leiter des Judenrats im Getto Białystok, zugleich Leiter der Wirtschaftsabt.; wurde im Sept. 1943 zusammen mit seiner Frau Yokheved in das KZ Lublin-Majdanek deportiert.

Skript

Maschinenschriftl. Bericht für das Ringelblum-Archiv im Getto Warschau, ungezeichnet, ohne Datum

 

Am vierten Tag nach Ausbruch des deutsch-sowjetischen Krieges marschierte die deutsche Armee in Białystok ein. Die verängstigte jüdische Bevölkerung verließ ihre Wohnungen nicht. Ein Teil der polnischen Bevölkerung begrüßte die einrückenden Truppen mit Blumen. Die dicht gedrängt lebenden jüdischen Bewohner Białystoks (etwa 45 000) bekamen Angst, die durch mehrere Brände in dem fast ausschließlich von armen Juden bewohnten Stadtviertel Chanajki noch verstärkt wurde.

Wer sein Hab und Gut retten wollte, fiel in die Hände der Deutschen und wurde entweder erschossen oder verbrannte bei lebendigem Leib in der Synagoge an der Sosnowa-Straße. Nur wenige konnten sich durch Flucht retten. An diesen Tagen (es dauerte zwei Tage) starben vermutlich etwa 700 Personen.

Unabhängig vom Niederbrennen des jüdischen Viertels wurden etwa 60 Personen (darunter Rabbiner Rozenman und der in Białystok bekannte Rechtsanwalt Tilleman) aus Wohnungen in der zentralen Straße Białystoks (B.-Pieracki-Straße und Sienkiewicz- Straße) gezerrt und unter Bewachung in Richtung des städtischen Schlachthauses geführt, wo sie erschossen werden sollten. Unterwegs wurde der Zug von einem deutschen Offizier angehalten. Nachdem dieser erfahren hatte, um welche Personen es sich handelte, befahl er, sie sofort freizulassen. Dabei sagte er: „Es sterben ohnehin so viele Menschen im Krieg – wieso sollen diese unschuldigen Leute sterben.“ (Quelle: Bericht eines Augenzeugen.)

Nach einigen Tagen wurde Rabbiner Rozenman zur deutschen Kommandantur gerufen und zum Obmann des Białystoker Judenrats ernannt. Funktionäre, die in Vorkriegszeiten sehr unterschiedlichen politischen Richtungen gefolgt waren, übernahmen die Verwaltung der Jüdischen Gemeinde. Der ehemalige kommissarische Gemeindedirektor von Białystok, Ingenieur Barasz, kehrte als Vertreter des Obmanns „an den Futtertrog“ zurück und entwickelte sich binnen kurzer Zeit zum Diktator des neuen Rats.

Dem Rat wurden Räumlichkeiten in der Kupiecka-Straße (im Altersheim der Vorkriegszeit) zur Verfügung gestellt. Der Obmann rief die jüdische Bevölkerung auf, sich für Arbeiten auf Wunsch der deutschen Machthaber bereitzuhalten. Die Juden gingen gern zur Arbeit. Es gab ohnehin zu viele Hände. In den ersten Wochen führten die Behörden mehrere Durchsuchungen in jüdischen Häusern und Gemeinderäumen durch. (Danach sahen die Wohnungen aus wie nach einem Pogrom.)

In der dritten Woche des Aufenthalts der Deutschen, an einem Donnerstagabend, wurden einige Straßen in dem von Juden bewohnten Viertel umstellt und Männer zusammengesucht, die zu einem Platz eskortiert wurden.

Auf dem Platz wurden Handwerker, Arbeiter und Angehörige freier Berufe in Gruppen aufgeteilt. Die Handwerker und Arbeiter ließ man frei. Die dritte Gruppe von etwa 200 Personen wurde verschleppt, und bis heute ist unklar, was mit ihnen passiert ist.

Eine Woche nach diesem Vorfall, in der Nacht von Freitag auf Sonnabend (um 3 Uhr nachts), wurden etwa 2500 jüdische Männer aus ihren Wohnungen verschleppt. Sie verschwanden spurlos.
Am selben Tag wurde den verängstigten Juden eine Kontribution in Höhe von einer halben Million Rubel, 5 kg Gold und 100 kg Silber auferlegt. Die Sammlung von Geld und Wertsachen erfolgte unter dem Motto: „Unser Geld für die Befreiung unserer Söhne, Brüder, Männer!“ Für die praktische Durchführung meldeten sich Leute, die nicht für ihre „sauberen Hände“ bekannt waren.

Das Gros dieser Sammlungen landete in den Taschen der „Sammler“. Trotz allem wurde die Kontribution rechtzeitig zum Termin aufgebracht. Die aus den Wohnungen verschleppten Juden wurden dennoch nicht freigelassen.

Nach einigen Tagen führte man gelbe Flicken (auf der Brust und auf dem Rücken) in Form des Davidstern ein. Am 1. Juli (1941) wurde ein Getto eingerichtet. Die Juden hatten fünf Tage Zeit, um in das Getto zu ziehen. Die Gemeinde übernahm die Zuteilung der Wohnungen, was aufgrund von Schmiergeldern gut funktionierte. Es wurde festgelegt, dass jedem drei Quadratmeter zustanden. In dieser Zeit gingen sehr viele Juden freiwillig arbeiten. Besonders begehrt wurden Arbeiten in den sogenannten Lebensmittelstützpunkten. Die Leiter dieser Stützpunkte, deutsche Soldaten, wählten sich einen Vertrauensmann unter ihren Arbeitern aus, der die Arbeit zuwies.