Dok. 08-163

Perec Golstein erinnert sich am 27. August 1942 daran, wie teilnahmslos er vor Kriegsbeginn auf Berichte über die Verfolgung der deutschen Juden reagiert hat

Ich, Motl Mashis und Berl Gotnik diskutieren darüber, ob schließlich alle Juden

Ich, Motl Mashis und Berl Gotnik diskutieren darüber, ob schließlich alle Juden

Orte
  • Grenze Staatsgrenzen von 1937
  • Grenze Staatsgrenzen und Grenzen der Unionsrepubliken der UdSSR 1938–1941
  • Grenze Deutsch-sowjetische Demarkationslinie im besetzten Polen vom 28. Sept.1939
  • Grenze Grenze zwischen den eingegliederten Gebieten und dem Generalgouvernement
Personen

Perec Golstein (1897–1943), Kaufmann; führte vor 1939 eine Gaststätte in Hoszcza, bis 1941 Arbeit als Buchhalter, floh im Mai 1942 mit seiner Familie aus der Stadt, von einer poln. Familie aufgenommen, im Frühjahr 1943 verhaftet und im Juli erschossen. Die Aufzeichnungen verfasste er im Versteck.

 

Skript

Ich, Motl Mashis und Berl Gotnik diskutieren darüber, ob schließlich alle Juden ermordet und damit ausgerottet werden und ob es irgendeine Erinnerung an sie geben wird. Wenn alle Juden ermordet werden – wer wird der Welt die Wahrheit berichten, die bittere Wahrheit, die schrecklichen Taten, die Grausamkeiten, die an uns verübt wurden? Leider ist es aber so, dass uns jeden Tag Nachrichten wie diese erreichen: Gestern gab es eine Mordaktion in Kostopol, vorgestern in Berezne. Und so geht es jeden Tag in einer anderen Stadt, und wo immer es geschieht, ist die Gegend hinterher „judenrein“. In einem Gebiet, wo eine Mordaktion stattgefunden hat, darf auch nicht die Spur eines Juden übrig bleiben, und schnappt man einen Juden, der sich irgendwo in Feld oder Wald versteckt hat, dann übergeben ihn die Bauern der Polizei. Die wird ihn schon erledigen. So gibt es also keinerlei Hoffnung, dass auch nur ein einziger Jude übrig bleibt, irgendein lebender Zeuge, der der Welt dies alles überliefern könnte. Nun könnte man einwenden, dass es genug Menschen anderen Glaubens gibt, denen diese Schandtaten ebenfalls nahegehen, die verbittert zusehen. Die wollen es aber nicht überliefern, weil es ihnen nicht so ans Herz greift. Es greift ihnen nicht ans Herz, weil ja nicht ihre Glieder abgetrennt werden. Nur uns Juden, denen man bei lebendigem Leibe jeden Tag Stücke herausschneidet, greift es ans Herz. Ich habe sogar Zweifel, ob die Juden in Amerika, bei denen wir davon ausgehen, dass sie am Leben bleiben werden, dasselbe fühlen können wie die, die es selbst erleben. Man fragt mich, wie die Massenmorde auf die ausländischen Juden wirken und ob sie davon wissen. Ja, warum muss man erst zu den ausländischen Juden gehen und fragen, ob es auf sie wirkt, ob sie alles wissen? Schaut Euch doch selbst an! Wie haben wir uns in der Sowjetzeit gefühlt, wenn wir gelesen haben, dass in Deutschland die Juden ausgerottet werden, oder wenn überlebende jüdische Zeugen, die von dort zu uns geflohen waren, uns genau erzählten, was dort passiert? Man saß und las die Zeitung oder hörte dem Bericht des geflohenen Juden zu. Währenddessen trank man Tee, aß einen guten Kuchen oder Torte und bot auch jenem davon an. Aber brach es uns das Herz? – Nein ... im Herzen fühlten wir nichts. Wohl seufzten und stöhnten wir, aber ihm, dem Flüchtling, war es bitter. Das fühlt man erst, wenn man es selbst am eigenen Leibe erlebt. Ebenso fühlen die ausländischen Juden. Das zeigt, dass das jüdische Volk ein abgestorbener Körper ist. Ein Glied spürt nicht, was dem anderen geschieht. Das jüdische Volk der Welt müsste schreiend an das Gewissen aller Völker appellieren: „Er sandte sein Volk und es soll ihm dienen.“ Bedauerlicherweise denken selbst unsere Brüder nicht daran.