Dok. 08-133

Dawid Sierakowiak beschreibt vom 12. bis 13. Dezember 1939 den antijüdischen Terror in Lodz

Meine Lieben, ich schreibe diesen Brief ohne zu wissen

Meine Lieben, ich schreibe diesen Brief ohne zu wissen

Orte
  • Grenze Staatsgrenzen von 1937
  • Grenze Staatsgrenzen und Grenzen der Unionsrepubliken der UdSSR 1938–1941
  • Grenze Deutsch-sowjetische Demarkationslinie im besetzten Polen vom 28. Sept.1939
  • Grenze Grenze zwischen den eingegliederten Gebieten und dem Generalgouvernement
Personen

Mordekhay Khavin auch Morduch Chiszyn (1903–1942), Kaufmann; wohnte vor dem Krieg in Baranowicze.

 

Sima Chiščen (gest. 1942), seine Frau, Zahnärztin.

Skript

Meine Lieben, ich schreibe diesen Brief ohne zu wissen, wer ihn erhalten wird. Denn ich übergebe ihn einem Bekannten, zusammen mit den Adressen unserer Freunde.

Ich schreibe den Brief am 18.VII.42, einen Tag oder ein paar Tage vor der Exekution... Wir befinden uns in einem Getto und tragen gelbe Flecken. Um uns und unsere Leiden zu beschreiben, fehlt es an Worten und Zeit. Wir sehen dem Tod unmittelbar ins Auge. Wir sterben im Bewusstsein, dass der Feind der Welt den Krieg verloren hat und jemand Rache für uns nehmen wird. Bisher hält man immer noch einige von uns am Leben..., um die übrigen auf schändliche Weise „zu beerdigen“, viele lebendigen Leibes und unter schrecklichen Qualen. Was auch immer wir über spanische und andere Inquisitionen gelesen haben, dies hier ist damit nicht zu vergleichen. Denn was ist schrecklicher: Einen Menschen auf einen Scheiterhaufen zu werfen – wie in Spanien geschehen – oder hunderte Kinder vor den Augen ihrer Mütter in eine Grube bei lebendigem Leibe zu verschütten? …und die Mütter müssen dabei zuschauen!

Wir sind innerlich schon so verhärtet, dass wir kaum noch weinen. Wir warten auf den Tod, wie auf einen helfenden Engel, der uns von Kummer, Schimpf und Schande erlöst...

Wir sitzen in Nyesvizh und hören, dass tagtäglich eine Stadt ausgelöscht wird. Und jetzt sind wir an der Reihe. Heute oder morgen. Wir und die Kinder, so feine, wohlgeratene Kinder, liegen in unseren Kleidern und warten auf den Tod...

Ach und weh, weh über uns!

Dem Christen, der diesen Brief abschicken wird, habe ich versprochen, dass Ihr ihn gut belohnen werdet dafür, dass er den Brief vielleicht nach dem Krieg abschicken wird.

Euer Mordekhay Khavin

 

Liebe Brüder und Schwestern im Ausland, vielleicht erreichen Euch diese letzten Abschiedsworte und Ihr erfahrt so von unserer großen Tragödie der zehntausend Toten.

Sima Chiščen, Niswiš, 18.7.