Dok. 15-317

Sámuel Schönberger äußert im Mai 1945 seine Verzweiflung darüber, dass er das Schicksal seiner Familienangehörigen nicht kennt


In der heutigen Zeitung lese ich, dass Hitler tot ist und

In der heutigen Zeitung lese ich, dass Hitler tot ist und

Orte
  • Grenze Staatsgrenzen von 1937
  •  
Personen

Julia Schönberger (1900–1944), Ehefrau von Sámuel Schönberger; Noémi Schönberger (*1922), Tochter von Sámuel Schönberger; Erzsébet Schönberger (1931–1944), Tochter von Sámuel Schönberger; Gábor Schönberger (1943–1944), Sohn von Sámuel Schönberger; Nina Schönberger, geb. Wohlberg (1864–1944), Mutter von Sámuel Schönberger. Julia, Erzsébet, Gábor und Nina Schönberger wurden am 28.6.1944 aus dem Getto Debrecen nach Auschwitz deportiert und dort ermordet. Noémi Schönberger wurde ebenfalls nach Auschwitz deportiert, am 17.8.1944 nach Buchenwald überstellt und anschließend nach Allendorf zur Arbeit in einer Munitionsfabrik gezwungen. Auf dem Todesmarsch nach Bergen-Belsen konnte sie flüchten; im Okt. 1945 kehrte sie nach Budapest zurück und emigrierte 1956 in die USA.
Die Familie Schönberger wurde in das im Mai 1944 eingerichtete Getto Debrecen eingewiesen.
Am 20. Juni 1944 wurden die Bewohner des Gettos in das Sammellager auf dem Gebiet der Serly- Ziegelei gebracht, wo insgesamt etwa 13 000 Personen aus der Umgebung zusammengefasst wurden. Ende Juni fuhren von dort je zwei Deportationszüge nach Auschwitz bzw. nach Strasshof an der Nordbahn ab.
Sámuel Schönberger erfuhr erst im Aug. 1945, dass seine Familie ermordet wurde und lediglich seine Tochter Noémi überlebt hat.

 

Gyula Szilády (1892–1945), Gendarmerieoberst; 1943/44 Kommandant des VI. Gendarmeriebezirks, von Dez. 1944 an Kommandant der Gendarmerie in Budapest; 1945 vom ungar. Volksgericht zum Tode verurteilt, vor der Hinrichtung erschlagen.

Skript

Meine süße Juliska! Teure Emike! Teure Erzsike! Teure Gabika! Liebes Omachen!
In der heutigen Zeitung lese ich, dass Hitler tot ist und dass euer Hauptpeiniger aus der Ziegelfabrik, Gendarmenoberst Szilády, am Galgen endete! Und doch verspüre ich keinerlei Genugtuung. Ich wünsche niemandem den Tod, ich wünsche mir nur Euer Leben, und dies mit einer unbeschreiblichen herz- und seelenzerreißenden Intensität.

Meine Freunde sagen mir, ich sei in keiner guten Verfassung, dass ich auf mich aufpassen solle, denn bis die Meinen zurückkehrten, werde ich abgemagert sein, man wird nichts von mir vorfinden.
Aber wie soll ich auf mich aufpassen? Wie kann man fließendem Wasser befehlen, rückwärts zu fließen? Das geht doch nicht, nicht wahr! Es ist nicht möglich, nicht an Euch zu denken!

Es ist nicht möglich, mich nicht um Euch zu zerquälen. Da ich nicht wissen kann, nicht weiß: Lebt Ihr noch? Wer ist geblieben von Euch? Und wenn Ihr am Leben seid, in welcher Gefahr seid Ihr, welche Gefahr droht Euch in jeder Minute, jeder Stunde des Tages? Am 30. April erkrankte ich an Grippe, und heute, am 3. Mai, hatte ich den ganzen Tag kein Fieber mehr. Die Schwägerin von Bencze fuhr am 1. Mai ab, am gleichen Tag trafen Benczes Ehefrau und Tochter ein. Die beiden haben mich gepflegt und gefüttert und mir geholfen, als ob wir Geschwister wären. Und trotzdem habe ich mich wie ein vertriebener Hund gefühlt. Obwohl ich ein eigenes kleines Zimmer für mich habe. Und Ihr, meine Teuren, meine Süßen! Wo legt Ihr Eure erschöpften Häupter nieder, wenn auf dem Weg nach Hause oder irgendwo an einem unbekannten Ort einer von Euch krank wird? Doktor Dickmann und seine Frau waren mehrmals bei mir und waren so lieb! Und wer behandelt Euch? Wer stärkt, wer beruhigt Euch? Wie werdet Ihr nach Hause finden? Wenn dies überhaupt möglich ist, wenn Ihr noch am Leben seid. Dieses quälende, ätzende, verzehrende „Wenn“!!! Dieses Gedankenkarussell, diese seelensprengende Qual, dieses bohrende „Wenn“!!! Das ist es, was es so unerträglich macht. Seitdem ich weiß, dass diejenigen, die in der Hölle auf dem Dachboden der Ziegelfabrik waren, ohne jeden Zweifel nach Auschwitz verschleppt worden sind, quält es mich mehr, als wenn ich im Voraus das genaue Datum und die Stunde meines Ablebens wüsste.

Der nun beinahe sechs Jahre andauernde Krieg wird innerhalb von Tagen auch offiziell zu Ende gehen! Es wird bei der Rückkehr ruhiger sein und bessere Voraussetzungen geben, und langsam werden diejenigen ankommen, die ankommen können, diejenigen, die noch am Leben sind. Ich warte. Ich werde lange warten. Wenn ich Nachrichten von Euch bekomme, werde ich auch geduldig sein. Wenn nicht, werde ich versuchen, alles Mögliche [zu tun], jede Nachricht und jede Spur zu finden. Wenn ich bis Herbst nichts von Euch gehört habe, werde ich selbst die blasseste Spur von Euch verfolgen. Ich würde bereits jetzt losgehen. Gehen? Ich würde zu Euch rennen, Euch entgegenrennen, ich befürchte jedoch, wir würden uns verfehlen. Im Herbst muss ich davor dann keine Sorge mehr haben, im Herbst werde ich losgehen, wohl wissend, dass ich niemals hierher zurückkehre. Sobald es möglich ist, werde ich nach Tel Aviv und New York und dem Schweizer Roten Kreuz schreiben. An die beiden ersten Stellen habe ich bereits im Winter aus Bukarest geschrieben. Soweit ich mich erinnern kann, sprachen wir über diese drei Stellen am Abend vor meiner Einberufung. Genau heute vor einem Jahr! Es war der 25. Mai, heute ist der 24. Mai, aber damals war es ein Donnerstag. Heute vor einem Jahr – mein Gott, mein Herr, mein Schöpfer! Ein ganzes Jahr schon! Wir packten den Rucksack. Um 11 Uhr abends. Ich kann nicht schlafen, kann nicht lesen, ich habe diesen Abend vor einem Jahr genau vor mir. Bis jetzt schrieb ich diese Briefe auf Blätter. Heute, am Vorabend des ersten Jahrestags, habe ich eine geeignete Beschäftigung gefunden, ich schreibe die bisherigen Briefe ab in dieses Buch. Heute vor einem Jahr. Ich habe Dich immer über den Rucksack hinweg beobachtet, wie traurig warst Du, mein einziges, gutes, teures Mütterchen. Ich konnte Dich nicht aufmuntern, weil ich fühlte, ich würde für lange Zeit fort sein, ich spürte, dass ein ziemlich großes Unheil drohte! Ich spürte und wusste, dass Du es ebenfalls wusstest, dass Du das Gleiche dachtest und fühltest. Warum ging ich damals fort? Wir könnten jetzt zusammen sein, sei es im Jenseits, aber zusammen. Seither ist mein Leben eine öde Wüste der Hoffnungslosigkeit, ein schreiender Schmerz. Was bringt das? Nur die handflächengroßen, ja winzigen Oasen der Hoffnung, des Vertrauens, der sehnsüchtigen Wünsche und des Seufzens halten mich seelisch zusammen.

Der Krieg ist zu Ende. Jetzt könnte man leben. Die Judenverfolgung ist zu Ende! Jetzt würde es sich lohnen zu leben. Leben, leben, aber nur mit Euch. Für Euch und um Euretwegen! Ohne Euch nicht!!! Es hätte keinen Sinn. Ich sehne mich so sehr nach Euch. Wenn Ihr schon alles hinter Euch habt, dann geht es Euch dort besser, und ich möchte dort sein, wo Ihr seid.

Debrecen, 3. Mai bzw. 24. Mai 1945, an einem Donnerstagabend in der Nacht um
3⁄4 12.