Dok. 15-275

Magdolna Gergely berichtet zwischen dem 15. und 17. Oktober 1944 über die chaotischen Tage des politischen Umbruchs


Am Sonntag, gleich nach dem Mittagessen, kommen Ilus und

Am Sonntag, gleich nach dem Mittagessen, kommen Ilus und

Orte
  • Grenze Staatsgrenzen von 1937
  •  
Personen

Magdolna Gergely, verh. Frau Dr. György Bodor (1902–1976); Chemikerin; Sekretärin in der Direktion der Englisch-Ungarischen Zwirnfabrik, als katholisch getaufte „Halbjüdin“ von den antijüdischen Bestimmungen ausgenommen.

 

Ilona Bernauer und ihr Ehemann Peter Roger Mezei (1898–1944 oder 1945), Chemiker; Arbeit im Pharmakonzern Chinoin; am 2.12.1944 zum Arbeitsdienst eingezogen und deportiert, gilt offiziell als verschollen.

 

Tódor Gergely (1869–1949), pensionierter Generaldirektor der Ersten Ungarischen Allgemeinen Versicherungsgesellschaft, Vater von Magdolna Gergely; bereits als Kleinkind katholisch getauft.

 

Frau Jakab Fáth, geb. Klára Verebi, kam öfter aus Mártonhegy zu Besuch. Ihre Eltern wohnten als Hausmeisterehepaar in einem kleinen Häuschen auf dem Grundstück der Gergelys. Früher half Kalka Magdolna Gergely bei der Betreuung ihres Sohnes Boli.

 

Miklós Horthy von Nagybánya (1868–1957), Admiral; 1909–1914 Flügeladjutant von Kaiser Franz Joseph I., von Febr. 1918 an Befehlshaber der k. u. k. Kriegsmarine; 1920–1944 Reichsverweser; im Okt. 1944 in Bayern interniert; im Mai 1945 von der US-Armee befreit, emigrierte 1948 in die Schweiz, anschließend nach Portugal.

 

Aladár Tóth Jr. (1927–1989), Jurist; Sohn von Magdolna Gergely aus erster Ehe mit Dr. Aladár Tóth und Bruder von Mária Tóth; 1950–1955 Richter, 1955/56 Referent im Justizministerium, 1957 entlassen, 1957–1963 Schneidergehilfe in einem privaten Kleinbetrieb, von 1963 an Rechtsanwalt in einem Anwaltskollegium.

 

Mária Reichardt, geb. Tóth (*1934), Dolmetscherin; Tochter aus der ersten Ehe von Magdolna Gergely mit Dr. Aladár Tóth; 1956 Flucht aus Ungarn, Emigration nach Deutschland, 1961 akademisch geprüfte Auslandskorrespondentin, 1962–1992 Fremdsprachensekretärin am Slavischen Seminar der Philipps-Universität Marburg.

 

Lajos Veress von Dálnok (1889–1976), Offizier; 1940–1942 Kommandeur der 2. Kavalleriebrigade, 1942 der 1. Panzerdivision an der Don-Front, 1942–1944 Befehlshaber des IX. Armeekorps, Aug. bis Okt. 1944 Oberbefehlshaber der 2. Armee, Okt. 1944 als Horthy-loyaler Offizier von den Pfeilkreuzlern verhaftet, degradiert und zu 15 Jahren Haft verurteilt; 1947 vom ungar. Volksgericht zu lebenslanger Haft verurteilt, 1956 nach Großbritannien emigriert.

 

Károly Beregfy (auch Beregffy) (1888–1946), Offizier; 1941–1943 Befehlshaber des VI. Armeekorps, Juni 1943 bis Mai 1944 Oberbefehlshaber der 3. Armee; Mai bis Aug. 1944 Oberbefehlshaber der 1. Armee, Okt. 1944 bis März 1945 Verteidigungsminister; 1946 vom ungar. Volksgericht zum Tode verurteilt und hingerichtet.

 

Géza Lakatos (1890–1967), Offizier; 1941–1943 Befehlshaber des VIII. Armeekorps, von Mai 1943 an Befehlshaber der ungar. Besatzungstruppen in der Sowjetunion; April bis Mai 1944 Oberbefehlshaber der 1. Armee, Aug. bis Okt. 1944 Ministerpräsident, Okt. 1944 bis April 1945 unter Hausarrest gestellt; bis Jan. 1946 in sowjet. Internierung, 1965 Emigration nach Australien.

 

Miklós Horthy von Nagybánya (1868–1957), Admiral; 1909–1914 Flügeladjutant von Kaiser Franz Joseph I., von Febr. 1918 an Befehlshaber der k. u. k. Kriegsmarine; 1920–1944 Reichsverweser; im Okt. 1944 in Bayern interniert; im Mai 1945 von der US-Armee befreit, emigrierte 1948 in die Schweiz, anschließend nach Portugal.

Skript

Maschinenschriftliches Tagebuch

 

15. und 16. Oktober

Am Sonntag, gleich nach dem Mittagessen, kommen Ilus und ihr Mann an; Napó will seinen Augen kaum trauen, weil er nicht weiß, dass sie in die Ausnahmebestimmungen miteinbezogen wurden. Gleich zu Beginn unserer Unterhaltung stürzt Kalka atemlos ins Zimmer: „Im Rundfunk wurde gesagt, es gebe einen Waffenstillstand!“ Wir alle rennen vor die Küche [in den Hof], es wird die Proklamation von Horthy ausgestrahlt: Er habe um einen Waffenstillstand angesucht, weil die Kriegslage hoffnungslos sei! Wir setzen uns alle vor die Küche [im Hof] hin, Napó, Ilus, Péter und ich hören zu, in der ersten Minute mit großer Freude, aber wir erkennen sofort, dass das böse Ende erst noch kommt. Plötzlich ruft Boli an und weist uns darauf hin, dass im Radio etwas Verdächtiges ausgestrahlt werde; wir hören, dass Veress die Truppen angewiesen hat, weiter zu kämpfen, da es vorläufig nur Verhandlungen gebe. Dann: Generaloberst Károly Beregffy werde sofort nach Budapest bestellt! Boli sagt, er sei sicherlich ein Pfeilkreuzler (und in der Tat)!

 

17. Oktober

In der Frühe gehe ich ins Büro. In den Straßen scheinbare Ruhe, Maschinengewehre, Deutsche, Pfeilkreuzler rasen mit Deutschen in Autos umher und stolzieren mit ihren dilettantisch hochgehaltenen Gewehren herum. Bei den Brücken Geschütze, Soldaten. Viele ungarische Soldaten tragen die Armbinde der Pfeilkreuzler. Im Büro erzählt man, dass es gestern etwa die Hälfte der Mitarbeiter nicht geschafft habe, zur Arbeit zu kommen; nur wer in der Nähe wohne, sei gekommen. Schreckliche Geschichten über die Kämpfe in der Népszínház-Straße, noch immer würden dort Tote herumliegen. Die Deutschen hätten die Burg mit „Tigern“ gestürmt, zuerst das Radio besetzt. Die Honvéds in der Burg hätten Widerstand geleistet. Auch bei der Kaserne der Leibgarde habe es heftige Schusswechsel gegeben, man habe dort angeblich den Reichsverweser verhaftet und nach Süddeutschland gebracht, Lakatos habe man nach Wien überstellt. Der Terror ist hirnlos und ganz tragikomisch! Man räumt die jüdischen Häuser, schreckliche Szenen. Bei uns im Büro (es war mal ein jüdisches Haus) hat man zwei Stockwerke geräumt, der ehemalige Kommandant des Luftschutzes, Anwalt Kertész, wurde erschossen. Die kleinen Angestellten sind begeisterte Pfeilkreuzler. Sie jubeln, dass jetzt der Sieg käme, weil dem „Verrat“ ein Ende gesetzt worden sei. Das ist eine der widerwärtigsten Lügen der Deutschen: Solange sie gesiegt haben, war es ihr Verdienst, aber seit Stalingrad wird von Verrat gesprochen, natürlich möglichst ein Verrat seitens der Verbündeten!

Ich eile nach Hause, weil „nach dem Einbruch der Dunkelheit“ Ausgangssperre ist, man darf keine Bekannten mehr, nur noch Verwandte besuchen, höchstens drei Personen können sich auf den Straßen als Gruppe aufhalten usw. Die Judenhäuser sind gesperrt. Gegenüber der Sportanlage des BBTE gibt es ein Judenhaus, dort sehe ich unzählige Autos, man hält große Reden, ich komme näher, da werden Juden abgeschleppt. Unzählige Pfeilkreuzler, Schaulustige, viele Frauen. Man lässt jüdische Arbeitsdienstler mit gelber Armbinde die Bewohner des Hauses herumschubsen! Der Menschenzug setzt sich in Bewegung, vorne eine Pfeilkreuzlerin, in Hosen, mit einer Handgranate, sie kreischt hysterisch: „Schneller!“ In die Zahnradbahn steigt eine deutsche Schwadron ein, die die Beschimpfung der Juden angeführt hatte; ihre Fratzen sehen aus, als ob sie gerade ordentlich gezecht hätten, sie wirken total selbstzufrieden.