Dok. 11-215

Odd Nansen berichtet in seinem Tagebuch am 10. April 1945 von einer Gruppe jüdischer Kinder, die zu medizinischen Experimenten missbraucht werden

Ich war vorhin drüben und habe eine Gruppe jüdischer Kinder

Ich war vorhin drüben und habe eine Gruppe jüdischer Kinder

Orte
  • Grenze Staatsgrenzen von 1937
  •  
Personen

Odd Nansen (1901–1973), Architekt; Sohn von Fridtjof Nansen, 1936 Präsident der Nansen-Hilfe für staatenlose Flüchtlinge; 1942 Inhaftierung im Lager Grini/Norwegen, Okt. 1943 Deportation nach Sachsenhausen, März bis April 1945 in Neuengamme inhaftiert; 1946 Mitbegründer von UNICEF, 1953 Großes Verdienstkreuz mit Stern und Schulterband.

 

Dr. Kurt Heißmeyer (1905–1967), Arzt; 1937 NSDAP-Eintritt; 1938–1945 Oberarzt in den Heilanstalten Hohenlychen/Brandenburg; 1944/45 nahm er medizinische Experimente an Häftlingen im KZ Neuengamme vor; von 1946 an Lungenfacharzt in Magdeburg, 1963 wurde er verhaftet und 1966 zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt, starb im Gefängnis Bautzen.

 

Georges-André Kohn (1932–1945). Gemeint ist die Rothschild-Stiftung, deren Generalsekretär der Vater von Georges-André Kohn, Armand Kohn, war. Die Stiftung betreute das jüdische Krankenhaus in Paris.

Skript

Ich war vorhin drüben und habe eine Gruppe jüdischer Kinder besucht, die hier gehalten werden, wie sie auch dort in Sachsenhausen gehalten wurden – als Versuchskaninchen. Im hinteren Teil einer der Revierbaracken und mit einem geheimen Eingang versehen, wohnen sie in einem kleinen Zimmer. Insgesamt 20. 10 Jungen und 10 Mädchen im Alter von 4 bis 12 Jahren. Zuerst gelangt man in einen kleinen Hinterhof, in dem ein großer Käfig mit Meerschweinchen steht – die zum gleichen Zweck da sind wie die jüdischen Kinder. Auf dem Hof befinden sich noch ein Haufen Kohle und ein Abfallhaufen. Übrig bleiben kaum 10 Quadratmeter, um sich zu bewegen. Das war der einzige Ort, an dem die Kinder sich draußen aufhalten konnten, um frische Luft zu schnappen. Ansonsten lebten sie drinnen in einem winzigen Zimmer, das fast nur aus den Doppelstockbetten bestand, in denen sie jeweils zu zweit schliefen. Es waren süße Kinder – einige nahezu bezaubernd –, und es waren wohl diejenigen, die blond waren und am wenigsten oder überhaupt nicht jüdisch aussahen. Sie kamen aus Frankreich, Holland, Belgien und Polen. Alle kamen aus Auschwitz hierher. Einige von ihnen, unter anderem ein 8-jähriger Junge, hatten 4½ Jahre im Konzentrationslager gesessen. Auf die Frage hin, welche Art von Experimenten mit diesen Menschenkindern unternommen worden waren, drohte der „Häftlingsarzt“, der mich „zurechtwies“, warnend mit dem Finger – darüber dürfe nicht geredet werden, doch die Kinder hatten Spritzen verabreicht bekommen. – Was für Spritzen? – Neue Warnung mit dem Finger – und flüsternd kam: Tuberkulose! – Ob es wirkliche und kundige Wissenschaftler gewesen seien, die die Experimente veranlasst hatten? – Ja, ein deutscher Professor, der Wiesmeyer oder Priesmeyer oder so ähnlich hieß. Aber die Kinder scheinen keinen Schaden durch die Experimente erlitten zu haben, und keines von ihnen schien Tuberkulose zu haben. Keines der Kinder, die dort gewesen waren, sei gestorben, und auch seien sie nicht sonderlich krank gewesen. Im Moment hatte eines Lungenentzündung; der Sohn des Leiters vom Rothschild-Institut in Paris. Doch ihm wurde gute Pflege zuteil, und er sei wohl bereits auf dem Weg der Besserung. Die Kinder bekamen offenbar auch genug zu essen und lebten insoweit sorglos – ohne das geringste Verständnis davon, was mit ihnen und um sie herum geschah. Alle waren vermutlich Waisen, d. h., ihre Eltern wurden aus Auschwitz abtransportiert, als dieses Lager geräumt wurde. Diese Transporte kannten wir nur allzu gut – aus Sachsenhausen –, und wer dabei war, hatte kaum eine Chance, mit dem Leben davonzukommen. Mein Freund der Häftlingsarzt, der die Kinder offenbar ins Herz geschlossen hatte, schüttelte bekümmert den Kopf, als ich nach ihrem Schicksal fragte, falls das Lager evakuiert werden sollte. Er bat mich, die schwedische Kommission zu fragen, ob sie nicht etwas für sie tun könne! Ich werde es tun, gehe aber davon aus, dass auch das vergeblich ist. Wie das meiste, das man versucht, für Mithäftlinge zu tun. Die Kinder haben sowohl Essen als auch Süßigkeiten von uns bekommen – und sie werden mehr erhalten, solange wie wir hier sind. Ansonsten wird nicht nur mit diesen Kindern experimentiert. Es zeigte sich, dass der ganze Block, an dessen Ende sie untergebracht sind, voll besetzt ist mit stark heruntergekommenen Individuen vom gewöhnlichen Muselmann-Typus – die auch Gegenstand von unterschiedlichsten Versuchen sind. Ob sie an diesen Experimenten oder an etwas anderem sterben, ist eher gleichgültig. Denn das sollen sie ja! Und wenn bei den Versuchen etwas Gutes herauskommt, war ihr Tod ja nicht vergebens. Und das ist wohl mehr, als man von den Millionen und abermals Millionen anderer behaupten kann.