Dok. 05-325

Die Pariser Studentin Hélène Berr hält am 8. Juni 1942 fest, wie die Kennzeichnung durch den gelben Stern sie aufwühlt

Mein Gott, ich habe nicht geglaubt, dass es so hart

Mein Gott, ich habe nicht geglaubt, dass es so hart

Orte
  • Grenze Staatsgrenzen von 1937
Personen

Hélène Berr (1921–1945); aufgewachsen in Paris; studierte von 1940 an Englisch und Literatur an der Sorbonne; von 1941 an Mitarbeit in der Untergrundorganisation Entraide Temporaire, vor allem beim Verstecken jüdischer Kinder aktiv; am 8.3.1944 mit ihrer Familie verhaftet und im Lager Drancy interniert; am 27.3.1944 nach Auschwitz deportiert; im Nov. 1944 Verlegung nach Bergen-Belsen, starb dort im April 1945.

 

Jean Morawiecki (1921–2008), Diplomat; verlobt mit Hélène Berr; von Okt. 1943 an bei den Truppen de Gaulles; von 1945 an im Auswärtigen Dienst, 1945–1948 am ehemaligen franz. Generalkonsulat in München.

Skript

Tagebucheintrag

 

Montag, 8. Juni […]

Mein Gott, ich habe nicht geglaubt, dass es so hart sein würde.

Den ganzen Tag über hatte ich großen Mut. Ich ging mit hocherhobenem Kopf und habe den Leuten so fest ins Gesicht geblickt, dass sie die Augen abwandten. Aber es ist hart.

Übrigens schauen die meisten Leute nicht hin. Am Schlimmsten ist es, anderen Leuten zu begegnen, die ihn tragen. Heute Morgen bin ich mit Mama ausgegangen. Zwei Knirpse auf der Straße zeigten mit dem Finger auf uns und sagten: „Äh? Hast du gesehn? Jude.“ Doch sonst verlief alles normal. Auf der Place de la Madeleine haben wir Monsieur Simon getroffen, der anhielt und vom Fahrrad stieg. Ich fuhr alleine mit der Métro weiter bis Étoile. Von der Place de l’Étoile bin ich ins Artisanat gegangen, um meinen Arbeitskittel abzuholen, dann habe ich den 92-er genommen. Ein junger Mann und ein junges Mädchen warteten, ich sah, wie das junge Mädchen seinen Begleiter auf mich aufmerksam machte. Dann redeten sie miteinander.

Instinktiv habe ich den Kopf gehoben – in die pralle Sonne –, ich hörte: „Das ist empörend.“ Im Bus war eine Frau, wahrscheinlich eine maid, die mir schon vor dem Einsteigen zugelächelt hatte und die sich mehrere Male umdrehte und lächelte; ein eleganter Herr schaute unverwandt auf mich: Ich konnte nicht erraten, was dieser Blick zu bedeuten hatte, aber ich schaute stolz zurück.

Ich bin noch einmal aus dem Haus gegangen, um an die Sorbonne zu fahren; in der Metro hat mich wieder eine Frau aus dem Volk angelächelt. Mir stiegen die Tränen in die Augen, ich weiß nicht warum. Im Quartier Latin waren kaum Leute unterwegs. Es gab nichts zu tun in der Bibliothek. Bis vier saß ich herum, träumte vor mich hin in dem kühlen Raum, durch dessen heruntergelassene Rollläden ockerfarbenes Licht drang. Um vier Uhr ist J M hereingekommen. Es war eine Erleichterung, mit ihm zu sprechen. Er hat sich vor mein Schreibpult gesetzt und blieb dort bis zum Schluss, plauderte und sagte manchmal auch gar nichts. Eine halbe Stunde lang ging er weg, um Karten für das Konzert am Mittwoch zu holen; dazwischen kam Nicole.

Nachdem alle die Bibliothek verlassen hatten, habe ich meine Jacke hervorgeholt und ihm den Stern gezeigt. Aber ich konnte ihm dabei nicht ins Gesicht blicken, ich machte ihn ab und heftete das blau-weiß-rote Sträußchen, mit dem ich ihn befestigt hatte, an mein Knopfloch. Als ich aufschaute, sah ich, dass er mitten ins Herz getroffen war. Ich bin sicher, er hat nichts geahnt. Ich fürchtete, unsere ganze Freundschaft könnte dadurch plötzlich zerbrechen, kaputtgehen. Doch anschließend sind wir bis Sèvres-Babylone gegangen, er war sehr nett. Ich frage mich, was er gedacht hat.

[…]