Dok. 05-257

Raymond-Raoul Lambert schildert vom 24. Juli bis 20. Dezember 1940, wie sich das Leben für die Juden in Frankreich verändert hat


Eine der traurigsten Erinnerungen meines Lebens. Heute

Eine der traurigsten Erinnerungen meines Lebens. Heute

Orte
  • Grenze Staatsgrenzen von 1937
Personen

Raymond-Raoul Lambert (1894–1943), Journalist; von 1927 an Mitglied des Rats der Zionistenvereinigung Frankreichs; 1935–1937 Chefredakteur der Wochenzeitung L’Univers Israélite; 1936–1942 Generalsekretär des CAR (Comité d'Assistance aux Réfugiés); Lambert hatte am Ersten Weltkrieg teilgenommen und war mit der Croix de Guerre ausgezeichnet worden. 1939/40 diente er im Rang eines Hauptmanns. 1942/43 Generaldirektor der UGIF (Generalverband der Juden in Frankreich), ab März 1943 Präsident der UGIF ad interim; am 21.8.1943 verhaftet, am 7.12.1943 nach Auschwitz deportiert und dort ermordet.

Skript

Handschriftl. Tagebuch

 

[…]

Marseille, 2. Oktober 1940

Eine der traurigsten Erinnerungen meines Lebens. Heute Morgen entnahm ich der Presse: „Der Ministerrat beschleunigt die Ausarbeitung und die Fertigstellung des Judenstatuts …“ Es könnte also sein, dass ich in einigen Tagen ein minderwertiger Bürger sein werde, dass meine Söhne, von Geburt, Kultur und Glauben Franzosen, brutal und grausam aus der französischen Gemeinschaft ausgestoßen werden … Ist das möglich? Ich kann es nicht glauben. Frankreich ist nicht mehr Frankreich. Ich wiederhole mich: Deutschland hat das Sagen. Damit will ich diese Beleidigung unserer ganzen Geschichte rechtfertigen – aber ich kann es immer noch nicht fassen.

[…]

Marseille, 19. Oktober 1940

Ich erfuhr gestern Morgen durch ein vorbereitendes, schreckliches und ungerechtes Kommuniqué vom Judenstatut, gestern Abend dann durch den im Amtsblatt veröffentlichten Text. Der Marschall und sein Stab unterstehen Hitlers Befehlen. Sie verfügen über meine Person sowie über die Zukunft meiner Kinder … Die französischen Juden, selbst jene, die für das Vaterland gefallen sind, haben sich nie assimiliert. Der Rassismus ist zur Richtlinie des neuen Staates geworden. Welche Schande! Ich kann diese Verneinung von Gerechtigkeit und wissenschaftlicher Wahrheit noch nicht begreifen … Alle meine Illusionen stürzen in sich zusammen! Ich habe Angst, nicht um mich, sondern um mein Land. Es kann nicht so weitergehen, das ist nicht möglich. In der Geschichtsschreibung wird später diese Abschaffung der Erklärung der Menschenrechte im Jahre 1940 wie ein neuerlicher Widerruf des Edikts von Nantes erscheinen … Ich werde niemals das Land verlassen, für das ich beinahe getötet worden wäre, doch werden meine Söhne hier leben können, wenn man sie daran hindert, ihren beruflichen Werdegang frei zu wählen? Ich darf aus Gründen des Blutes nicht mehr schreiben, ich bin nicht mehr Offizier … Wäre ich Professor, würde ich entlassen, weil ich Jude bin! Ich kann das noch nicht glauben …

Zwei Hypothesen: Entweder wird Deutschland von den Anglo-Amerikanern besiegt und die Menschheit ist gerettet oder Deutschland gewinnt und eine hundertjährige Nacht senkt sich über Europa. Das Judentum wird überleben, wie im Mittelalter. Aber welches Leid stellt es dar, ein Bürger zweiten Ranges zu sein, wenn man bereits im Genuss aller Freiheiten war, da man die Herabstufung nicht verdient hat … Wo ruht in diesen Zeiten das freie Denken Frankreichs, der Geist von Descartes und Hugo?

Ich weinte gestern Abend wie ein Mann, der plötzlich von seiner Frau, der einzigen Liebe seines Lebens, der einzigen Ratgeberin seiner Gedanken, der einzigen Lenkerin seiner Handlungen, verlassen wird.

[…]