Dok. 04-022

Der Flüchtling Artur Szlifersztejn beschreibt am 15. Oktober 1939 sein Leben im sowjetisch besetzten Teil Polens

Mein lieber Joschka!
Auch ich habe durch die Deutschen

Mein lieber Joschka!
Auch ich habe durch die Deutschen

Orte
  • Grenze Staatsgrenzen von 1937
  • Grenze Staatsgrenzen und Grenzen der Unionsrepubliken der UdSSR 1938–1941
  • Grenze Deutsch-sowjetische Demarkationslinie im besetzten Polen vom 28. Sept.1939
  • Grenze Grenze zwischen den eingegliederten Gebieten und dem Generalgouvernement
Personen

Artur (Artek) Szlifersztejn lebte von 1940 an in Lemberg; die spätere Korrespondenz mit seinem Bruder Józef (Józek, Joschka) Szlifersztejn drehte sich um den am Ende vergeblichen Versuch der Ausreise in die USA; Artur kam vermutlich unter der deutschen Besatzung um.

Joseph Stein wurde um 1906 als Józef Szlifersztejn in Warschau geboren. Er wanderte mit seiner Frau Tola und seiner Tochter Danuta vor 1939 nach New York aus.

Skript

Brief von Artur Szlifersztejn aus Białystok an Joseph Stein in Brooklyn vom 15.10.1939

 

Mein lieber Joschka!

[…]

Auch ich habe durch die Deutschen viel erlitten. In einem Brief lässt sich das kaum beschreiben. Wir gerieten in Gefangenschaft – als Zivilbevölkerung. Und als wir in Łuków waren, befahlen sie ganz einfach allen Männern, die Wohnungen zu verlassen, bildeten Vierergruppen und trieben uns in der Nacht in eine andere Stadt und – nach einem eintägigen Aufenthalt dort – weiter zur nächsten Stadt. Dank unserer Geistesgegenwart gelang es uns, zu fliehen und uns aus den Händen dieser Henkersknechte zu befreien. Unser Sprachschatz ist zu arm, um die Bestialität der Deutschen zu beschreiben. Als wir die erste rote Fahne erblickten, atmeten wir auf. Das Land bis zum Bug – bis nach Lemberg – haben die Sowjets eingenommen und weiter im Westen alles die Deutschen. Im Laufe nur weniger Wochen haben sie die polnische Armee zerschlagen. […] Polen im politischen Sinne – gibt es nicht mehr. Die Ludwiks und ich werden innerhalb der Grenzen Sowjetrusslands bleiben. Die Deutschen haben uns zu sehr gequält, als dass wir den Wunsch hegen könnten, zurückzukehren. Ich mache keinerlei Pläne, ich weiß nicht, was uns erwartet, ich weiß nur, dass wir als Menschen behandelt werden, und danach hatten wir uns alle gesehnt.

[…]

Lieber Joschka! Ich bitte Dich, Dir keine Sorgen zu machen. Das Jahr 1939 hat uns viel Unglück gebracht, aber vielleicht scheint ja auch für uns am Ende die Sonne. Die Lebenden sollten nicht verzweifeln. Ich gestehe Dir, dass ich durch ein Wunder gerettet wurde. Weil ich bis jetzt nicht umgekommen bin, hoffe ich zu überleben. Ich freue mich, dass wenigstens einer von uns diese Gräuel nicht durchmachen musste. Das jüdische Volk ist unzerstörbar. Wenn die einen es in Europa vernichten wollen, bleibt der Teil in England und in Amerika sowie in den übrigen Ländern bestehen, die nicht von der Seuche des Hitlerismus heimgesucht wurden. Vielleicht werden nach dem Krieg die Flüchtlinge ungeachtet der Quoten in die USA auswandern können.

Aber das ist Zukunftsmusik.

In Białystok gibt es ca. 100 000 Flüchtlinge. [Viele] unserer Bekannten. Unter anderen Bolek Senator, der mit Frau und Kind flüchtete, aber 98 Prozent sind Männer, die alleine sind, denn es war unmöglich, Frauen und Kinder auf den unsicheren Weg mitzunehmen. Sie hätten die beschwerliche Reise kaum überstanden. Wir haben zu Fuß rund 350 Kilometer zurückgelegt, und dies unter schwierigen Bedingungen, ständig unter Beschuss von Maschinengewehren und von Bomben, die aus Flugzeugen abgeworfen wurden. Den größten Teil unserer Wanderungen legten wir nachts zurück, und am Tage schliefen wir in Scheunen. Jetzt haben wir Ruhe in dem Gebiet, das von der Armee der UdSSR eingenommen wurde. Wir sind in Białystok bei Bekannten. Augenblicklich kostet uns der Unterhalt nichts, und wir warten, bis eine Beruhigung eintritt. Ich habe noch etwas Geld, und was allen widerfahren wird – geschehe auch mit mir.

[…]

Ich küsse Dich herzlich und bitte Dich noch einmal, guter Stimmung zu sein, und verlier nicht die Hoffnung – so wie ich –, dass wir uns wiedersehen, und dann werden wir einander alles erzählen.

Dein Dich liebender [Artur]