Dok. 07-144

Anna A. Veller und Marija A. Fajngor berichten im Januar 1942 über die Verfolgung der Juden in Kaluga und das Leben im Getto

Immer hartnäckiger verbreiteten sich die Gerüchte über

Immer hartnäckiger verbreiteten sich die Gerüchte über

Orte
  • Grenze Staatsgrenzen von 1937
  • Grenze Staatsgrenzen und Grenzen der Unionsrepubliken der UdSSR 1938–1941
  • Grenze Deutsch-sowjetische Demarkationslinie im besetzten Polen vom 28. Sept.1939
  • Grenze Grenze zwischen den eingegliederten Gebieten und dem Generalgouvernement
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Personen

Anna A. Veller, Apothekerin; leitete die Apotheke Nr. 1 in Kaluga.

 

Marija A. Fajngor war als Neuropathologin der Kalugaer Poliklinik tätig. Aufgrund des gleichen Vatersnamens ist es wahrscheinlich, dass es sich um eine Schwester von Anna A. Veller handelt.

 

A.Gutman (*etwa 1871), Dirigent in Kaluga.

Skript

[…] Immer hartnäckiger verbreiteten sich die Gerüchte über das Herannahen der Roten Armee. Gleichzeitig tauchten Berichte auf, dass die Deutschen vor ihrem Rückzug ein Blutbad unter den Juden anrichten wollten. Mit Ungeduld erwarteten die Juden die Befreiung. Die Hoffnung auf einen plötzlichen, unerwarteten Einmarsch der Roten Armee in Kaluga verließ sie nicht, aber gleichzeitig verließ sie auch nicht für eine Minute die Furcht, dass es den Gestapoleuten gelingen könnte, im letzten Moment mit den Juden abzurechnen. Plötzlich verschwand die Kommandantur aus der Stadt, Fahrzeuge setzten sich mit unbekanntem Ziel in Bewegung, voll mit deutschen Soldaten und Offizieren. Innerhalb von zwei Tagen erschienen im Getto immer wieder einzelne Gruppen deutscher Offiziere. Zwei Offiziere kamen auf dem Motorrad ins Getto und verschwanden wieder in unbekannte Richtung, nachdem sie von den Juden mit Waffengewalt Pelze und Filzstiefel geraubt hatten. Nach ihnen kam ein Aufseher, sammelte beim Dirigenten Gutman und anderen Juden Uhren, Teppiche und andere Wertsachen ein, und versicherte, dass sie [die Deutschen] jetzt nicht mehr ins Getto kämen.

Am 20. Dezember begannen die Brände in der Lunačarskaja-, Znamenskaja- und anderen Straßen, im Viertel am Fluss. Die deutschen Barbaren tauchten in Gruppen von vier bis fünf Leuten in den Wohnungen auf, suchten russische Soldaten, durchsuchten Zimmer, Dachböden und jagten alle Bewohner aus den Häusern, woraufhin sie die Häuser anzündeten […] Haus um Haus zündeten die Deutschen an und jagten die Bewohner auf die Straße, ohne Sachen und teilweise sogar ohne Schuhe. Die Flammen loderten immer höher auf, und gegen Abend brannten die ganze Znamenskaja-Straße und die anliegenden Häuser.

Der Brand breitete sich in Richtung Getto aus. Die Juden erwarteten das heranrückende Ende mit Schrecken und fürchteten, dass sie die Befreiung nicht mehr erleben würden. Schließlich brannte am 21. Dezember das letzte Haus vor dem Getto, Schreie der Deutschen waren zu hören, die Juden rannten in alle Richtungen davon, einige in die Keller, andere zu Unterständen, wieder andere schlossen sich einfach in ihren Wohnungen ein und warteten auf den unabwendbaren Untergang. Wie tragisch, gerade jetzt zu sterben, wo die Befreiung so nahe war. Doch es schien, als wäre von nirgendwo Rettung zu erwarten. Die Rote Armee würde es nicht schaffen, die Unglücklichen zu retten. Oben auf der Anhöhe war ein deutscher Posten aufgestellt, der die Bewegungen der Juden verfolgte. Eine Gruppe von 15 Personen, darunter auch wir, versteckte sich im Keller des Nachbarhauses. Während wir im Keller saßen, hörten wir die Schreie und das Weinen der Frauen, als die Deutschen und die [russischen] Polizisten kamen. Die Deutschen suchten nach allen möglichen Sachen, die Polizisten nach Gold, aber sie stahlen alles, was ihnen in die Hände fiel, sogar Teller, Löffel, Schuhcreme, Seife, Fette usw.

Unheilverkündende Schüsse – elf Schüsse, das bedeutete elf Erschossene – hallten in unseren Ohren wider. Nach einer kurzen Atempause tauchten die Deutschen in der Wohnung auf, unter der wir uns versteckt hielten. Da sie die Bewohner nicht antrafen, steckten sie das Haus in Brand. […]

Wir rannten zum Ausgang, von oben schossen sie mit dem Maschinengewehr auf uns. Wir stoben auseinander und schlugen uns schließlich gegen Abend bis zur Stadt durch, wo wir uns versteckten – die einen in Wohnungen von Bekannten, die anderen in Kellern. Die Deutschen durchsuchten die Luftschutzkeller und wenn sie Leute darin fanden, erschossen sie sie an Ort und Stelle. So starben die Frau des Dirigenten Gutman und ihre zwei Schwestern, Gutman selber wurde von sieben Kugeln verletzt. Den anderen gelang es, sich in Wohnungen von Bekannten zu retten, wo sie eingeschlossen bis zur Ankunft der Roten Armee in Kaluga ausharrten.

Fröhlich und munter, wunderbar gekleidet in weiße Pelzjacken und Filzstiefel, marschierten unsere Befreier in Kaluga ein. Die Stadtbewohner fielen den Soldaten um den Hals, küssten sie, brachten ihnen Brot, alles, was noch da war, Tabak und andere Dinge. Die Soldaten lehnten die Geschenke höflich und fröhlich ab. „Wir haben genug von allem, wir sind satt, ihr aber seid hungrig, esst selbst! Wohl bekomm’s!“, so sprachen die Soldaten. Die Straßen Kalugas belebten sich plötzlich, eine freudige Menge erschien, die Menschen trafen sich wieder, küssten und umarmten einander mit Tränen in den Augen. Die Stadt wurde mit Fahnen geschmückt – das war ein wahrer Freudentag! Endlich war die Stunde der Befreiung gekommen.