Dok. 11-220

Charlotte Grunow aus Berlin berichtet am 20. April 1945 in der BBC über ihre Erlebnisse in Auschwitz und Bergen-Belsen

Hier spricht Charlotte Grunow, eine Berliner Jüdin

Hier spricht Charlotte Grunow, eine Berliner Jüdin

Orte
  • Grenze Staatsgrenzen von 1937
  •  
Personen

Charlotte Grunow, geb. Schenk (1909–1966), Kinderpflegerin; 1936 Heirat mit Harry Grunow (1910–1943); Herbst 1939 Tätigkeit bei der Reichsvereinigung der Juden – Zweigstelle Hamburg, von Sept. 1941 bis Febr. 1943 Zwangsarbeit in Berlin, kurzfristig untergetaucht, 19.4.1943 Deportation nach Auschwitz; 1945 wurde sie in Bergen-Belsen befreit und emigrierte später nach Schweden.

 

Dr. Dr. Josef Mengele (1911–1979), Arzt und Anthropologe; 1938 Assistent des Rassenhygienikers Otmar von Verschuer; 1938 NSDAP- und SS-Eintritt, seit 1940 Mitglied der Waffen-SS; Mai 1943 bis Jan. 1945 Lagerarzt in Auschwitz, wo er u. a. medizinische Experimente an Häftlingen durchführte; 1945–1949 lebte er untergetaucht in Deutschland, 1949 Flucht nach Südamerika.

 

Skript

Hier spricht Charlotte Grunow, eine Berliner Jüdin. Vor zwei Jahren – genau vor zwei Jahren – bin ich verhaftet worden und von der Gestapo mit 750 Leuten nach Auschwitz gebracht worden. Da wir ein arbeitsfähiger Transport war, wurde ein großer Teil von uns gerettet. Gleich am Bahnhof wurde man sortiert in arbeitsfähig und in nicht arbeitsfähig. Frauen mit Kindern und Männer, die Krankheiten oder irgendwelche Gebrechen hatten, wurden auf Autos geladen, von denen wir nicht wußten, wohin sie fuhren. Im Lager selbst hörten wir dann erst, daß diese Leute alle in das Gas gegangen sind. Eine Sache, die man sich kaum vorstellen kann, wenn man nicht diesen schrecklich roten Himmel tagtäglich vor sich gesehen hat und gewußt hat, daß dort nicht nur kranke, sondern blühende junge Menschen, die ein kleines, winziges Fleckchen am Körper hatten, hingegangen sind. Jede Woche wurden sogenannte Sortierungen durchgeführt. Das war ein stundenlanger Appell, die Leute mußten stundenlang vor den schrecklichen Blocks stehen, dann kam der Arzt, Hauptsturmführer Mengele, und machte mit einer Handbewegung einem Leben, das ihm nicht gefiel, ein Ende. Er sortierte die Menschen nach Nr. 1 und Nr. 3 und Nr. 5, sie mußten aus der Reihe treten, wurden auf Block 25 gebracht. Block 25 war der Todesblock. Von dort aus gingen die Menschen am Abend, wenn alles dunkel war, nur der Stacheldraht brannte, von auf Autos geladen, in den Kamin. Man hörte sie schrecklich schreien und dann war auf einmal Schluß und man sah hoch am Himmel eine blutrote Flagge aufsteigen. Die Lebensmöglichkeiten für das Gros waren so schwer, dass nach kurzer Zeit die Leute an Abmagerung einfach umfielen und nicht mehr weiterkonnten. Ein Hospital gab es nur für Leute, die irgendeine Protektion hatten, die anderen mußten am Block ihre Krankheiten durchstehen. Wer nach der Krankheit zu schwach war zur Arbeit, wurde bei der nächsten Sortierung aussortiert und ging auch dorthin, wo Tausende und Abertausende von jungen Menschen geblieben sind. Die Wohnmöglichkeiten waren so: Wir schliefen in Steinblocks, zu zehnt auf einer Koje, keinen Strohsack, keine Decke gab man uns. Wir hatten nur das, was wir anhatten: einen Mantel, mit dem mußten wir uns zudecken. Wenn es regnete, mußten wir stundenlang Appell stehen, d. h. jeden Tag mindestens zwei, drei Stunden, zweimal am Tag. Das machte alle Leute bei wenig Essen sehr schnell schwach, und sie fielen fast täglich um. Die Arbeit war so schwer, daß wenige von ihnen sie aushielten. Die Frauen arbeiteten in Steinbrüchen und beim Häuserabriß, immer draußen im Freien, bewacht von Posten und sehr scharfen Hunden. Sowie sie nicht mehr weiter konnten mit ihrer Karre, wurden sie geschlagen, man sagte ihnen: ,Auf, du mußt weiter‘, und mit aller Kraft, man wußte, worum es ging, schleppte man den Stein oder diesen Karren noch bis zum Tor. Man kam meistens abends noch gerade durch das Tor zum Einmarsch, und dann fielen die Leute um und waren tot. Nachher besserte sich das etwas, das Verhältnis. Die Leute, die arbeiteten, bekamen Zulage, zweimal wöchentlich, so daß es verschiedene aushalten konnten. Der größte Teil von ihnen starb an Flecktyphus, eine schreckliche Epidemie, die durch Läuse und durch Unsauberkeit hervorgerufen wurde. Man hatte keine Möglichkeit, sich zu reinigen. Jeden Schluck Wasser mußte man sich mit Brot erkaufen. Wasser gab es dort genug, aber das Prinzip der Deutschen war, möglichst viele Menschen zu erledigen, und man nahm ihnen deswegen alles, was zum Leben notwendig war, fort. Wasser und Kleidungsstücke bekam man nicht. Jeder, der ankam, wurde völlig abrasiert, man zog ihm seine privaten Kleider aus und zog ihm eine Uniform an, mit der er, solange er dort in Auschwitz war, eben auskommen mußte. Menschen, die gewöhnt waren, sich täglich zu waschen und ihre Kleidungsstücke zu reinigen, hatten es etwas besser, weil sie das eben auch noch in Auschwitz taten. Aber die meisten befiel eine solche Lethargie, dass sie nach einigen Tagen sich schon gar nicht mehr um die Läuse kümmerten, sondern einfach in ihrem Dreck liegenblieben auf der Koje und verkamen. Vor acht Monaten, vor acht Monaten wurde das Lager, weil der Feind in Sicht war, geräumt, und wir kamen hier nach Bergen-Belsen. In Auschwitz konnte man noch leben bei dem, was die Deutschen einem gaben, aber hier war es unmöglich. Man bekam am Tag einen Liter Kohlrübensuppe und ein Stückchen Brot. Arbeitsmöglichkeiten waren kaum vorhanden, Schlafbedingungen waren schrecklich und sind jetzt noch furchtbar. Man lag auf der Erde, in Zelten, im November in Zelten, so lange, bis ein Wind die Zelte abriß und wir glücklicherweise damals unter Dach und Fach kamen und ein festes Dach über dem Kopf hatten.

Heute sind wir glücklich, daß wir alles hinter uns haben, und wir wissen nicht, wie wir jemals den Befreiern – unseren Befreiern – danken sollen. Wir wissen nur, wenn wir rauskommen, daß wir alles, was wir hier erlebt haben, in die Welt hinausschreien müssen, denn anders kann man nicht leben. Die Menschen, die das jetzt hören, werden vielleicht glauben, wir sind nicht mehr ganz normal. Aber wenn man anfängt zu erzählen, dann ist es so grausam, man weiß nicht, wo man anfangen soll. Es gibt so schreckliche Sachen, die man erlebt hat, dass man keine Worte findet, sie zu schildern. Und jemand, der nicht dabei gewesen ist, der wird das gar nicht begreifen, wie furchtbar immer wieder diese rote leuchtende Flamme in unserer Erinnerung steht. Wenn wir heute die Sonne untergehen sehen, denken wir an den Kamin in Auschwitz, der Tausende von Menschen hingerafft hat, und man mußte zusehen, man war so verzweifelt, man ballte die Hände in der Tasche und konnte nichts dazu tun, weil man geknechtet und gefoltert war und nur, weil man als Jude nach Auschwitz gekommen ist, weil man das furchtbare Unglück hatte, als Jude geboren zu werden. Kein Verbrechen hat man weiter begangen, sondern nur als Jude ist man eben auf die Welt gekommen, und als Jude ist man dort in den Kamin gegangen.