Dok. 06-272

Wolfgang Salus schreibt am 23. März 1942 seiner Geliebten in Prag illegal einen Brief über die Lage in Theresienstadt und die Arbeit im Arbeitskommando in Kladno

Meine Liebste, ich möchte Dir mein Leben in den vergangenen vier Monaten schildern

Meine Liebste, ich möchte Dir mein Leben in den vergangenen vier Monaten schildern

Orte
  • Grenze Staatsgrenzen von 1937
Personen

Wolfgang Václav Salus (1909–1953), Schriftsteller; 1929 Privatsekretär und Leibwächter Trotzkis auf der türk. Insel Büyükada, Herausgeber der Zeitschrift Jiskra in Prag, von 1938 an Leiter der trotzkistischen Gruppen in der Tschechoslowakei; kam im Nov. 1941 mit dem Aufbaukommando nach Theresienstadt, im Sept. 1944 nach Auschwitz deportiert, wurde in Buchenwald befreit; emigrierte 1948 in die Bundesrepublik, starb 1953 infolge eines sowjet. Attentats in München.

 

 

Skript

Handschriftlicher Brief.

 

Meine Liebste,

ich möchte Dir mein Leben in den vergangenen vier Monaten schildern, denn diese waren für mich von großer Bedeutung, und ich weiß, dass ich mich sehr verändert habe und möchte nicht, dass Du mich nicht wiedererkennst, wenn ich mich vielleicht wieder einmal an Dich wende.

Theresienstadt: eine Stadt, die schon immer einen schlechten Ruf hatte. Das Blut von Generationen von Häftlingen ist in den hässlichen roten Backsteinmauern der Festung geronnen. Und innerhalb der Mauern liegt eine kleine Stadt aus Kasernen, Militärgebäuden, Reitanlagen, Offiziersvillen, Feldwebelhäusern und Baracken. Das Ganze wird von Polizisten, SS-Männern, Wehrmachtsoldaten, Regierungshäftlingen und Politischen überflutet, in grünen tschecho-slowakischen Uniformen mit dem roten oder blauen Dreieck auf Brust und Rücken beziehungsweise dem ominösen gelben Stern. Und dann die Juden: Greise, die sich an Stöcken dahinschleppen, über 80 Jahre alte Weiber mit zerzausten, kurzgeschnittenen grauen Haaren, Kranke auf Tragen, Kinder. Die Blüte der jüdischen Intelligenz: Wissenschaftler, Künstler aller Art. Die unendlichen Reihen des jüdischen Kleinbürgertums: Vertreter, Rechtsanwälte, Ärzte, Kaufleute, kleine Gewerbetreibende, eine graue Masse. Jüdische Handwerker. Und schließlich die jüdische Bourgeoisie. Sie alle werden zu Hunderten in den Kasernen gefangen gehalten. Frauen und Männer getrennt. Zerrissene Familien. Treffen von Familienmitgliedern sind sehr kompliziert, Zusammenkünfte ganzer Familien beinahe unmöglich. Bemerkt ein reizbarer Polizist oder gar ein deutscher Amtsträger einen Kuss zwischen Mutter und Sohn, Mann und Frau, Vater und Tochter, setzt es 25 Hiebe aufs nackte Hinterteil. Über all dem liegt eine graue Wolke aus Langeweile und Hunger. Junge gesunde Männer, die willkürlich zusammengetrieben wurden, schlafen zu 60 bis zu 350 Personen pro Raum auf Strohsäcken, auf Holzwolle oder einer Matratze in zwei- bis dreistöckigen Betten oder auf dem Betonboden. Sie liegen den ganzen Tag herum und reden über Gerichte, die sie früher einmal gegessen haben, über Zigaretten und Getränke. Aber jedes zweite Wort lautet: Wann ist es endlich zu Ende?

Die Theresienstädter Kaserne beherbergt durchschnittlich 12.000 Menschen. Jeden Monat werden weitere 5.000 eingeliefert, einige Tausend werden nach Polen, nach Riga oder sonst wohin verbracht. Zu welchem Zweck? Welchem Schicksal entgegen? Man weiß es nicht. So weiß man etwa nicht, nach welchen Gesichtspunkten Menschen für die „Transporte gen Osten“ ausgewählt werden. Es wird Dich wohl besonders interessieren, wie es mit der medizinischen Verpflegung aussieht. An Ärzten, und zwar wirklich guten Ärzten, herrscht Überfluss. Sie kämpfen jedoch mit bloßen Händen. Ausrüstungsmäßig stehen sie schlechter da als ein mittelalterlicher Wundarzt. Trotzdem gelingt es ihnen häufig, Menschenleben zu retten.

Was also wäre natürlicher, als aus diesem Gefängnis zu springen, egal wie es ausgeht? Daher habe ich mich als einer der ersten für die Arbeit im Bergwerk des Kohlenreviers von Kladno gemeldet. Das Essen schmeckt sehr gut, wir haben Lebensmittelkarten für Schwerarbeiter. Die Bergleute verhalten sich ausgezeichnet. Jeden Tag bekommen wir von den armen Teufeln mal eine Buchtel, mal eine Zigarette. Unsere Arbeit ist ziemlich schwer, aber machbar. Aber das Wichtigste ist: Unsere moralische Befindlichkeit hat sich binnen weniger Tage tausendfach verbessert. Nur ich fühle mich einsam und warte auf Deinen Brief. Denke also auch ein bisschen an mich. Ich denke ständig an Dich und verbleibe in unendlicher Sehnsucht.