Dok. 02-118

Gerta Pfeffer schildert die Abschiebung polnischer Juden aus Chemnitz im Oktober 1938

Austreibung aus Deutschland.
Wir sassen eines Abends

Austreibung aus Deutschland. Wir sassen eines Abends

Orte

._._._ Staatsgrenzen von 1937

Personen

Gerta Pfeffer (*1912), Textilzeichnerin; Tochter eines Chemnitzer Kaufmanns, 1933–1938 Anstellung in einer Weberei in Süddeutschland, danach Rückkehr nach Chemnitz; 1938 Verhaftung der Familie und Deportation an die poln. Grenze, 1939 Bewilligung zur Einreise nach England.

Skript

Bericht für ein Preisausschreiben der Harvard University (1940)

 

Austreibung aus Deutschland.

[…]

Wir sassen eines Abends im Oktober 1938 bei Tisch, als ein junger Mann zu uns kam und erzählte, dass eine polnisch-jüdische Familie soeben verhaftet war. Eine quälende Unruhe bemächtigte sich unser. Ich sah durchs Fenster auf die Strasse, sah hell erleuchtete, mächtige Polizeiautos durch die Strassen fahren und fast nur bei Häusern haltend, wo polnische Juden wohnten. Es war eine der Austreibungsaktionen von Juden im Gang, die damals so grassierten. Um 11 Uhr nachts kam man auch zu uns. Die ganze Familie musste mitkommen, wir durften nur Essen für 24 Stunden mitnehmen, sonst nichts. Erklärungen wurden uns keine gegeben. Ein Polizist, der mit mir Mitleid zu haben schien, fragte mich nach meinem Alter und tröstete mich, dass, da ich noch jung sei, mir nichts passieren werde. Wir wurden in einen grossen Gasthaussaal in der Stadt geführt, wo dicht zusammengedrängt schon eine Menge Leidensgenossen waren. Alle hatten ein verängstigtes, bleiches Gesicht, jeden quälte die Frage, was wohl die Nazibanden mit uns vor hatten. […] Meine ganze Familie musste in der Nacht einen Zettel unterschreiben, dass wir innerhalb von 24 Stunden das Land verlassen mussten. Wir waren natürlich sehr erregt und hatten noch immer keine Ahnung, wohin man uns eigentlich bringen werde. Wir blieben die ganze Nacht noch mit den zahlreichen Leidensgenossen zusammengepfercht in dem viel zu engen Saal, und in den Morgenstunden erfuhren wir, dass wir abtransportiert werden; bei Fluchtversuch werde jeder sofort erschossen. In grossen Polizeiwagen wurden wir zum Bahnhof gefahren. Dort sammelten sich rasch Neugierige an, ich habe keinen lachen gesehen, niemand hat uns beschimpft. Lange endlose Stunden fuhren wir mit dem Zug. Wir wussten nun, es ging nach Polen, wo wir sicherlich unerwünschte Gäste sein werden, obwohl wir polnische Staatszugehörige waren. Wir hatten keine Dokumente bei uns, kein Gepäck, nichts ausser was wir am Leibe anhatten. Es war 12 Uhr nachts. Wir mussten unweit der Grenze sein. Einige wenige Reisegefährten versuchten durch Witze aufheiternd zu wirken, aber ich fühlte doch die Angst, die aus allen Reisegefährten sprach. Der Zug hielt. Am Nebengeleise stand bereits ein anderer Zug mit ebenfalls ausgetriebenen Deutschen polnischer Staatsangehörigkeit. Wir mussten aussteigen. Da standen eine Unzahl von Hitlers schwarzer S.S. Ein Gruseln überlief uns. Was werden sie jetzt nur mit uns beginnen? Wir mussten uns in Reihen aufstellen, und neben jeder Reihe schritt ein S.S.-Mann daher. Wir wurden angetrieben wie eine Herde, schneller, schneller, rief man uns zu. Wir mussten einen endlos langen Weg gehen, erschöpft von der Angst, der Reise, dieses nicht endenwollenden Marsches auf der Strasse nach Polen, angetrieben von mitleidslosen S.S.-Banden. Einigen wenigen war gestattet worden, dass sie ein wenig Gepäck auf die Reise mitnehmen durften. Die meisten von ihnen mussten aber das Gepäck jetzt auf diesem Marsch wegwerfen; weil sie einfach zu schwach waren, auch noch das Gepäck zu schleppen. Es war stockfinstere Nacht. Wir hörten nur das Stöhnen der Erschöpften und das rohe Schimpfen der S.S. Wir marschierten immer noch auf der unbekannten Strasse einem unbekannten Ziele zu. Plötzlich hörten wir an der Spitze des Zuges Schreien. Mich überlief es kalt. Was bedeutet das wiederum? Später erfuhr ich, dass die Ersten mit Schlägen mit einer Eisenrute in einen schlüpfrigen Wassergraben getrieben wurden, der anscheinend die Grenze zwischen Polen und Deutschland bildete. Auch ich und meine Familie mussten durch den eiskalten Wassergraben. Auf der anderen Seite standen bereits einige Männer, denen es gelungen war, den schlüpfrigen Graben zu passieren. Sie reichten uns die Hände, und es gelang so, uns herauszuziehen. Zwei Kinder sollen in dem Graben ertrunken sein. Wir standen nun auf einer Wiese und wussten nicht, wo wir waren. Die S.S. rief uns noch nach, wir mögen ja nicht wagen, noch einmal nach Deutschland zurückzukommen, sonst würde man uns einfach erschiessen. Auf der Wiese war ein allgemeines Durcheinander. Männer suchten ihre Frauen, Kinder ihre Eltern, und es dauerte ziemlich lange, bis man sich in dem Dunkeln fand. Dann stapften wir durch die Felder einem Lichte nach, das wir in der Ferne sahen. Gesprochen wurde wenig, zu sehr lastete das Erlebte auf unserer Seele. Wo waren wir eigentlich? Waren wir bereits auf polnischem Gebiet und sogar dann, wo werden wir wirklich noch landen? Plötzlich tauchte ein polnischer Grenzbeamter auf und sprach mit uns polnisch. Nur wenige verstanden ihn. Wir sollten mit ihm kommen, zurück nach Deutschland. Ein Grauen überlief uns. Als wir uns weigerten, hetzte er einen Hund auf uns, schlug mit seinem Gummiknüttel auf uns ein und beschimpfte uns „Deutsche Schweine“. Das war das Widerwärtigste für mich. […] Auf der anderen Seite der Wiese stand ein deutscher Grenzbeamter, der uns natürlich die Rückkehr nach Deutschland verweigerte. Wir standen so die ganze Nacht auf dieser Wiese, aus Deutschland vertrieben, in Polen unerwünscht. Die Wiese war neutrales Gebiet, war Niemandsland. In der Ferne hörten wir [es] schiessen.

Den tiefsten Eindruck machten auf mich die Kinder, erschöpft, müde, tränenlos. Ich beobachtete, wie einzelne auf ihre verzweifelnden Eltern beruhigend einwirkten. Die Schüsse, die wir hörten, sollen Schüsse auf Vertriebene gewesen sein, die, von den Polen nicht ins Land gelassen, gezwungen wurden, deutsches Gebiet zu betreten.

[…]