Dok. 01-128

Margot Littauer beschreibt ihren Schulalltag in Breslau Mitte 1934

In der Schule begannen sich jetzt doch einige Dinge

In der Schule begannen sich jetzt doch einige Dinge

Orte

._._._ Staatsgrenzen von 1937

Personen

Margot Littauer (*1918) lebte 1919–1931 in Königsberg in Preußen, danach in Breslau; von 1935 an arbeitete sie als Hausangestellte und Sprechstundenhilfe; 1939 Emigration nach Palästina.

Skript

Bericht für ein Preisausschreiben der Harvard University (1940)

 

In der Schule begannen sich jetzt doch einige Dinge zu wandeln. Zuerst merkte man es an der Wahl der deutschen Arbeitsthemen, – z.B. „der 1.Mai – der Tag der nationalen Arbeit“. Wir, die juedischen Maedchen, muessen wohl ziemlich ratlos dagesessen haben. Ploetzlich ertoente ein Zuruf eines Hitlermaedchens: „Sollen die Juedischen das auch mitschreiben?“ Der Lehrer zuckte voellig verstaendnislos mit den Schultern und sagte: „na, selbstverstaendlich“. Es blieb uns also nichts weiter uebrig, wir mussten beginnen, ueber das Thema zu schreiben. Von welchem Standpunkt aus sollten wir denn bloss die Sache anfassen? Lobten wir den ersten Mai, so wuerden sie bestimmt sagen: „Juedische Speichellecker“, schrieben wir gegenteilig, so waren die Folgen ja gar nicht abzusehen. Ich beschloss also, eine sachliche Darstellung vom 1.Mai des nationalsozialistischen Staates zu geben, so gut ich es konnte. Der Aufsatz machte natuerlich einen sehr gekuenstelten Eindruck, – ich hatte noch einige Zeitungsphrasen hineingebracht, – denn es war ja fuer mich nicht moeglich, die Arbeit unbefangen zu versuchen. Wir hockten ziemlich hilflos da, guckten einander an und zuckten die Achseln. Einmal sah der Lehrer dies Achselzucken, – voellig verstaendnislos wieder! Schliesslich gab ich das verhaengnisvolle Heft ab. Auf dem Weg zum Katheder kam ich mir direkt laecherlich vor. Nach den Aufsatzstunden sagte niemand etwas, es schien, als waere es unwichtig und schon vergessen. Ich wusste ganz genau, dass der Aufsatz nichts wert sein konnte, aber diesmal brauchte mir keiner Vorwuerfe zu machen. Am naechsten Tage hatten wir wieder Deutsch. Zu Beginn der Stunde stellte sich der Deutschlehrer seiner Gewohnheit gemaess vor die vorderste Bankreihe, stuetzte die Haende auf die mittelste Bank, dass die Knoechel ganz weiss wurden, und sagte:

„Jemand hat gestern komischerweise gefragt, ob die juedischen Maedchen den Aufsatz mitschreiben sollen, ich habe mich eigentlich ueber die Frage gewundert, da ich sie nicht fuer so aktuell hielt; aber da sie nun einmal erhoben wurde, wollen wir sie klarstellen und darueber hinaus unsere Stellung zur Judenfrage festlegen.“

Es blieb voellig ruhig in der Klasse. Schliesslich fragte der Lehrer das Maedchen, das am Tag vorher die Frage gestellt hatte, und das er sehr gut leiden konnte: „Also, Eva Lotte, was haben Sie sich gedacht, als Sie die Frage stellten?“ Eva Lotte war sehr fuer das Theater eingenommen. Sie stellte sich gern zur Schau und versuchte immer, Mittelpunkt zu sein. So fuehlte sie sich auch jetzt hier am rechten Platz. In ganz vernuenftiger Art legte sie die Gruende dar, aus denen auch fuer uns deutlich hervorging, dass das Thema zur gleichzeitigen Bearbeitung fuer die ganze Klasse nicht geeignet war. Sie stellte fest, dass wir es weder positiv noch negativ haetten anfassen koennen. Als sie aber hinzusetzte, dass es eine Herabsetzung des Themas und des 1.Mai ueberhaupt bedeute, wenn diese Dinge von nichtdeutschen, nicht arischen Menschen beruehrt wuerden, griff der Lehrer ein und meinte, dass er ja, wie wohl alle wuessten, an eine Misskreditierung des ersten Mai, und damit einer nationalsozialistischen Einrichtung, zu allerletzt gedacht haette. […] Langsam begann […] die Diskussion ins allgemeine ueberzugehen, sie hielt sich in sehr vornehmen, eingezaeunten Grenzen. Ich meldete mich hierbei nur einmal zu Wort, um einen sachlichen Vorwurf des Lehrers zu entkraeften. Er hatte naemlich darauf hingewiesen, dass die Juden sich im Mittelalter zu sehr dem Handel hingegeben haetten. Wir juedischen Maedchen waren ihm immerhin dankbar, dass er das uebliche Schlagwort „Wucherer“ vermieden hatte. Ich versuchte, ihm also zu erklaeren, dass erstens die Juden im Mittelalter zu keinem anderen Beruf, sei es zu dem eines Handwerkers,sei es zu dem eines Bauern, zugelassen wurden. […] Dass die Zinsangelegenheit von den Nationalsozialisten als „Wucherzins“ ausgeschlachtet worden war, lag in einem Bedeutungswandel des Wortes „Wucher“ begruendet, das im Mittelalter nur eine Bezeichnung fuer ueblichen Zinssatz gewesen war und spaeter erst zu einer Bezeichnung fuer einen zu hoch genommenen Zinssatz geworden war. Aber es war natuerlich nicht moeglich, den Lehrer, der, wie man andauernd merken konnte, in den Theorien von „aussaugenden“ Juden zu sehr verwurzelt war, in 5 Saetzen zu belehren. Immerhin machten meine Ausfuehrungen einen gewissen Eindruck auf ihn, da er Vernunftgruenden noch zugaenglich schien und wohl persoenlich noch keine schlechten Erfahrungen mit Juden gemacht hatte. Aber die Anhaenger des Lehrers waren stark in der Minderzahl, und die Stunde naeherte sich dem Ende. Nach der drastischen Aeusserung eines Maedchens:

„Dann bleibt also den Juden nichts weiter uebrig, als den Gashahn aufzudrehen“ schloss der Lehrer mit folgenden Bemerkungen ab:

„Ich bin also dafuer, die Juden leidenschaftslos zu bekaempfen und sie von uns zu entfernen. Sie sind tatsaechlich fuer uns fremd, und sie behindern unser Volkstum.“

Und dazu hatten wir zwei Stunden diskutiert! Wir hatten ja die grundsaetzlichen Dinge, die den Nationalsozialismus haetten treffen koennen, gar nicht anruehren duerfen. Und so hoerten wir denn einmal aufrichtig und ungeschminkt die Meinung unseres „Lehrers und Erziehers“ ueber uns. Wir sollten ihm wohl dankbar fuer sein Entgegenkommen sein, dass er uns zum Unterschied gegen viele andere nur „leidenschaftslos“ bekaempfen wollte.