Dok. 12-092

Bob Cahen erzählt seiner Familie am 1. November 1942 vom Leben im niederländischen Lager Westerbork

Die Lage im Lager wechselt in jüngster Zeit ständig. Wie Ihr alle

Die Lage im Lager wechselt in jüngster Zeit ständig. Wie Ihr alle

Orte
  • Grenze Staatsgrenzen von 1937
  • Grenze Staatsgrenzen und Grenzen der Unionsrepubliken der UdSSR 1938–1941
  • Grenze Deutsch-sowjetische Demarkationslinie im besetzten Polen vom 28. Sept.1939
  • Grenze Grenze zwischen den eingegliederten Gebieten und dem Generalgouvernement
Personen

Jonas (Bob) Cahen (1918–2000), Elektrotechniker; er wurde im Aug. 1942 bei einer Razzia aufgegriffen und über das Lager Amersfoort nach Westerbork deportiert, arbeitete dort als Krankenpfleger, am 18.1.1944 wurde er nach Theresienstadt deportiert, von dort am 16.5.1944 weiter nach Auschwitz, überlebte die Todesmärsche und wurde in Lübeck befreit; 1958 emigrierte er nach Israel und kehrte um 1978 in die Niederlande zurück.

 

Skript

Handschriftl. Brief

 

[…]

Die Lage im Lager wechselt in jüngster Zeit ständig.

Wie Ihr alle wisst, kamen hier Anfang Oktober etwa 17 000 Juden aus den ganzen Niederlanden an. Was wir damals miterlebt haben, spottet jeder Beschreibung. Die Menschen kamen hier an, gejagt wie Vieh, einige begraben unter ihrem Gepäck, andere ohne jeden Besitz, einige nicht einmal richtig gekleidet. Kranke Frauen, die man aus dem Bett geholt hatte, in dünnen Nachthemden, Kinder in Hemdhöschen und barfuss, alte Leute, Kranke, Gebrechliche – immer mehr neue Menschen kamen in das Lager. Die Baracken waren voll, übervoll. Es gab höchstens Platz für 10 000 Menschen, und doch kamen immer mehr dazu. Die Schmiede arbeitete unter Hochdruck und produzierte Betten am laufenden Band. Strohsäcke und Matratzen gab es schon lange nicht mehr. Die Menschen mussten auf den eisernen Betten liegen. Die Baracken wurden immer voller. Die Menschen saßen oder lagen weinend herum. Sie schliefen auf oder unter Schubkarren im Freien. Es gab nicht genug zu essen. Warmes Essen bekam man manchmal nur alle drei Tage und dann noch zu wenig. Die Säuglinge bekamen keine Milch. Was anderes gab es nicht. Die Pumpen für die Wasserversorgung arbeiteten unter Hochdruck und waren nicht mehr in der Lage, das Wasser ausreichend zu säubern, so dass die Menschen verschmutztes Wasser trinken mussten – mit den entsprechenden Folgen. Baracken, in die unter normalen Umständen 400 Personen passten, wurden nun voll gepfropft mit bis zu 1 000 Menschen, die überall auf dem Boden herumlagen. Die Toiletten reichten nicht aus, waren verstopft.

Männer und Frauen lagen in denselben Räumen, es war ein Chaos. Dazwischen mussten wir arbeiten, die Patienten abholen und versorgen. Unser Krankenhaus füllte sich und wurde um eine neue Baracke erweitert mit fünf zusätzlichen Sälen. Neues Personal wurde eingestellt. Schnell, schnell! Einen Tag später war alles schon wieder voll.

Eine große Baracke wurde zusätzlich als Notfallkrankenhaus eingerichtet. Die Menschen lagen in drei Etagen übereinander. Sechs Ärzte arbeiteten Tag und Nacht, unterstützt durch einen Stab von Pflegern und Schwestern. Und es kamen immer mehr Patienten. Noch einmal fanden 300 eine Unterkunft, und dann war auch diese Baracke voll. Die übrigen mussten bleiben, wo sie waren. Die Pflege selbst: kein Material, Nachttöpfe und Urinale fehlten. Keine Teller, um davon zu essen. Warmes Wasser gab es nicht, es gab keine Tücher und Decken. Und dann ereignete sich der erste Todesfall, und es folgten regelmäßig weitere. Jeden Tag schieden zwei bis drei Menschen aus ihrem Leiden.

Das Zeitalter der Zivilisation – „Deutschland gewinnt an allen Fronten“, „bringt Kultur und Zivilisation!“ Zivilisation, wenn man Menschen auf Schubkarren, auf Rucksäcken oder einfach auf dem Boden liegen lässt? Kultur, wenn man eine Mutter verzweifeln sieht, weil sie ihr Kind nicht nähren kann … keine Milch. Es kann sich keiner eine Vorstellung machen, was es für uns bedeutet, Menschen nicht genügend helfen zu können und ihr Leben langsam erlöschen zu sehen. […] Ihr habt noch nie an einem Wettlauf mit dem Tod teilgenommen, wenn er seine gierigen Finger nach einer neuen Beute ausstreckt. Ein Mann, der lieber das Ende suchte als in die Hölle zu kommen. „Die Hölle in Polen.“ Wir fanden ihn auf einem Tisch liegend, mit durchschnittener Kehle. Er lebte noch und sagte: „Lasst mich ruhig so liegen, Freunde, so ist der Tod nicht so schlimm.“ Wir haben den Wettlauf aufgenommen, brachten ihn ins Krankenhaus, dort war alles schon vorbereit, wir gewannen den Wettlauf. Er lebt noch, es geht ihm besser, und doch wird er jetzt deportiert.

[…]