Dok. 12-086

Kurt Schroeter macht sich am 11. Oktober 1942 in Amsterdam Gedanken über die unsichere Situation der Juden und das System der Freistellungen

Trübe, sorgenvolle Tage voll Unsicherheit. Und bei

Trübe, sorgenvolle Tage voll Unsicherheit. Und bei

Orte
  • Grenze Staatsgrenzen von 1937
  •  
Personen

Kurt Schroeter (1882–1944), Ingenieur, Violinlehrer; 1937 Emigration aus Deutschland in die Niederlande, dort als Violinlehrer tätig, im Aug. 1943 bei einer Razzia in Amsterdam aufgegriffen und nach Vught deportiert, von dort am 15.11.1943 weiter nach Auschwitz, wo er am 2.1.1944 ermordet wurde.

 

Kurt Schroeter redet hier offenbar seine zwei Töchter an: Marianne Schroeter (1913–1971), Übersetzerin, emigrierte 1936 nach Schweden und kehrte 1952 nach Deutschland zurück; Sigrid Schroeter (1920–1999) lebte von 1935 an in der Schweiz.

Skript

Handschriftl. Tagebuch

 

Sonntag Abend […]

Trübe, sorgenvolle Tage voll Unsicherheit. Und bei so manchem menschlich Guten und Freundlichen im Einzelnen, was man erlebt, so viel, sehr viel Abscheuliches, Widriges und Erbärmlichstes im Kleinen und Großen.

Im Augenblick sieht es so aus, als ob ich zu denen gehören sollte, die ohne auch nur vorübergehenden Schutz vor dem Zugriff der Nazis bleiben werden. Gegenüber der Gefahr der Deportation nach Ostdeutschland, Polen etc. konnten hier (und können) gewisse Kategorien der Juden „freigestellt“ werden. Vorab diejenigen, die in
irgende[inem] Betrieb arbeiten, der für die Wehrmacht beschäftigt ist. Dann alles, was zum „Joodschen Raad“ gehört, der eine der übelsten trübsten Zeiterscheinungen ist. Anfänglich e. kleine Organisation zur Vermittlung zwischen Judenschaft und Deutscher Regierung, ist daraus e. riesiger Verwaltungsbetrieb geworden, der unter dem direkten Befehl und Kommando der Nazis alle gegen die Juden gerichteten Maßnahmen praktisch durchführen muß, – daneben auch mit Rat und Hülfe Elend mildert und Einzelnen zur Seite steht. Dieser „Rat“ hat natürlich f. seine Mitglieder und Angestellten, dann f. deren Angehörige den „Freistellungsstempel“ (der „bis auf Weiteres“ lautet) möglich gemacht, und das hat sich zu einer Schiebungsangelegenheit größten Maßes ausgebildet, die ekelerregend ist. – Eine andere Groteske für sich bildet die Tatsache, daß die „getauften“ Juden hier privilegiert wurden, womit natürlich das Grundprinzip der Nazis, die Rassenlehre, glattweg ausgestrichen ist, wodurch aber Tausende vorläufig geschützt sind. Die einzige Kategorie, die in Übereinstimmung mit dem deutschen Gesetz offiziell als Ausnahme zu gelten hatte, sind natürlich Angehörige einer Mischehe mit Kindern, die als „arisch“ gelten. Niemand hat dann auch daran gezweifelt, daß diese hier so gestellt werden wie in Deutschland. Zur Anmeldung dafür habe ich Eure Ausweise kommen lassen, die dann auch vor 2 Wochen ordnungsgemäß eingereicht sind. Und nun kommt das Ungeheuerliche: Ein Radikalkopf von der SS hier sucht durchzusetzen, daß der Schutz nur denen gewährt wird, deren Kinder jünger als 21 (andere sagen sogar 18 oder 16) Jahre sind! – Sicherheit ist darüber noch nicht zu erlangen; man läuft jeden Tag zu einer anderen Instanz, um sie zu kriegen. Geht diese Einschränkung wirklich durch – und es sieht danach aus! –, dann bin ich unmittelbar gefährdet und muß, wenn ich nicht gleich den Weg gehen will, den Dele und so viele Tausend andre gewählt haben, hier mit Hülfe von Freunden und hülfreichen anderen „verschwinden“, was natürlich auch sehr gefahrvoll und, wenn es lange dauern muß, beinahe unerträglich, mit Entbehrungen und Nöten verbunden ist. – Es ist tatsächlich so, daß der Anständige, der nicht zu „schieben“ und alle krummen Wege zu finden und zu gehen versteht, der Gefahr sicheren Unterganges ausgeliefert ist, wenn nicht eine unerwartbar schnelle Wendung des Krieges die Situation bessert, was jedenfalls nur zu wünschen, kaum zu hoffen, gewiß nicht zu erwarten ist. [...]