Dok. 12-075

Der Schriftsteller Sam Goudsmit hält am 10. September 1942 in Amsterdam die Angst vor den Verhaftungen am Abend fest

Halb zehn abends. So sitzen wir jetzt

Halb zehn abends. So sitzen wir jetzt

Orte
  • Grenze Staatsgrenzen von 1937
  • Grenze Staatsgrenzen und Grenzen der Unionsrepubliken der UdSSR 1938–1941
  • Grenze Deutsch-sowjetische Demarkationslinie im besetzten Polen vom 28. Sept.1939
  • Grenze Grenze zwischen den eingegliederten Gebieten und dem Generalgouvernement
Personen

Samuël (Sam) Goudsmit (1884–1954), Schriftsteller; in den 1920er- und 1930er-Jahren in den Niederlanden bekannter Autor; er überlebte die Besatzungszeit in einem Versteck und führte 1909–1954 Tagebuch.

 

Judith Goudsmit-van der Bokke (1885–1949); seit 1917 mit Sam Goudsmit verheiratet.

 

Neben Samuël und Judith Goudsmit lebten ihr Sohn Herman (1921–1943) und vermutlich der Sohn aus der ersten Ehe von Sam Goudsmit, Paul Bernard Goudsmit (*1919) in der Wohnung.

Skript

[…]

Donnerstag […]

Halb zehn abends. So sitzen wir jetzt Abend für Abend in Angst vor dem Läuten der Türklingel. Freistellungen, so sie überhaupt gelten – und es kommt vor, dass sie nicht gelten! –, können uns, wie man uns ganz allgemein sagt, auf keinen Fall vor dem Besuch an sich schützen, vor der Mitnahme zum Sammelplatz, wo über unser Schicksal und Leben entschieden wird.

Nach halb elf sind wir offenbar auch nicht mehr geschützt, denn gestern Abend sind anscheinend um 12 Uhr noch Juden abgeholt worden.

Also heute Abend wieder vier- oder fünfhundert Opfer, und wir wissen noch nicht, ob wir darunter sein werden.

Also heute Abend wieder Tausende Juden in Amsterdam, die mit kleinen Augen und bleichen Gesichtern beieinander sitzen und warten, ob sie heute Nacht in ihrer Wohnung werden schlafen dürfen oder, wenn ihnen die Klingel mitten durchs Herz schneidet, sie in ihrer Wohnung überfallen werden und sie für immer verlassen müssen. Das alles ist unglaublich und erschütternd; ich habe noch niemanden gesprochen, der noch die Ruhe hatte, dies zu verstehen und zu erklären. Wir wissen es, aber das ist noch kein Verstehen: Verstehen ist, sich in den Täter hineinversetzen zu können, und das können wir nicht; weder in die Täter noch in die Ausführenden, ja, nicht einmal in die Ausführenden, die noch protestieren. [...]

Nun also keine Angst vor der düsteren Zukunft mehr, keine Sorge um die Entwicklung der Situation, sondern die völlige Sicherheit und Kenntnis der entsetzlichen Tatsachen: Man ist dabei, alle Juden aus Holland zu verschleppen, Abend für Abend ab 8 Uhr, dem Zeitpunkt, ab dem wir (dafür!) in unseren Wohnungen bleiben müssen; und jeden Morgen, solange wir noch nicht an der Reihe waren, hören wir, was in der vergangenen Nacht geschehen ist, und erfahren wir die ungefähre Anzahl derer, die abtransportiert wurden. Erst ging es alphabetisch von vorne; letzte Woche und gestern Abend offenbar auch von hinten und nun [kommen] auch die Buchstaben dazwischen. Es gibt also für niemanden von uns noch Aufschub, nichts, was die Ängste noch ein paar Tage oder Wochen stillen könnte und die Vorbereitung auf das Unglück und das Ende ermöglichte. Jeden kann jeden Abend seine Vernichtung ereilen, und es sieht so aus, als wäre dies alles absichtlich so systematisch, um die Juden zu entnerven und ihnen ein Entkommen so schwer wie möglich zu machen.

Inzwischen werden aus den verfügbaren Polizeibeamten offenbar zunehmend die antijüdischen Elemente für diese Arbeit eingeteilt, denn die Mitteilungen über ein milderes Auftreten werden seltener, die über Feindseligkeiten und vom Genuss an der gewonnenen Macht dagegen zahlreicher.

„Halt oder ich schieße“, [schreien sie] ein 14-jähriges jüdisches Mädchen an, das nur schnell einmal außerhalb des Polizeikordons in der Straße auf eine Freundin zulief. Und für einen Patienten mit einem Nervenzusammenbruch [wird] ein Krankenwagen [bestellt] … nur um ihn abzutransportieren. – Es ist fast 11 Uhr, – und ich schreibe noch …

Wie wird dies alles in der Zukunft verrechnet werden können? Wer weiß das?

Das ist das Bestürzende. Dass es kein Rechtsgefühl mehr zu geben scheint.

2 Uhr nachts

Aufatmen

Sie sind nicht gekommen, ich wache noch, schreibe noch. Fünf Minuten nach 12 gab Judy mir noch einen Kuss und sagte: „Jetzt kommen sie nicht mehr, heute.“

Wusste ich es? Nein. Sie können auch nach 12 Uhr noch kommen, warum nicht?

Aber ich habe mich auch erleichtert gefühlt bei dem Gedanken, dass sie bei diesem Feldzug bislang immer vor 12 kamen.

Also wurde freier geatmet, und ich ging nach oben und wagte nun Kaffee mitzunehmen, weil die Angst und die Spannung so groß gewesen waren.

Kaffee und eine Zigarre, weil sie nicht gekommen sind und wir wahrscheinlich noch bis morgen Abend 8 Uhr frei sein werden, das sind 20 Stunden.

Bis morgen Abend 8 Uhr; dann beginnt das Spiel wieder von vorne für die hunderttausend übrig gebliebenen Juden in Amsterdam – und für uns vier, hier.

Mal abgesehen davon, dass wir uns morgen früh wieder zusammenkrümmen, wenn wir von der Ernte des heutigen Abends hören.