Dok. 12-059

Die niederländische Jüdin Betsy de Paauw-Bachrach schildert am 15. Juli 1942 den Abschied von ihrem Bruder, der einen Aufruf zum Arbeitseinsatz in Deutschland erhalten hat


Die Aufrufe zur „freiwilligen” Auswanderung kommen zu

Die Aufrufe zur „freiwilligen” Auswanderung kommen zu

Orte
  • Grenze Staatsgrenzen von 1937
  •  
Personen

Betsy de Paauw-Bachrach (1897–1943); von 1920 an verheiratet mit dem Diamantschneider Philip de Paauw, sie wurde am 20.6.1943 nach Westerbork deportiert, einen Monat später zusammen mit ihrem Mann nach Sobibor und dort bei der Ankunft ermordet.

 

David (Demy) Bachrach (1908–1942), kaufmänn. Angestellter; er wurde am 12.7.1942 nach Westerbork deportiert, von dort drei Tage später weiter nach Auschwitz, wo er im Aug. oder Sept. 1942 umkam.

 

Gemeint sind David (Demy) Bachrachs Neffen Israel de Paauw (*1924) und Robbert Walter Pinto (1926–1943).

 

Alette Irene Pinto (1929–1943); sie wurde mit ihrer Familie im Mai 1943 verhaftet, am 1.6.1943 nach Sobibor deportiert und dort ermordet.

 

Simon Bacharach (1870–1943), Mohel, Lehrer; von 1899 an in Oude Pekela und Nijkerk tätig; er wurde am 6.5.1943 nach Westerbork deportiert, am 11.5.1943 weiter nach Sobibor, wo er drei Tage später ermordet wurde. Alle Kinder von Simon Bacharach änderten schon vor dem Krieg ihren Nachnamen in Bachrach, das erklärt die unterschiedlichen Nachnamen.

 

Jetjen Bacharach-Frank (1868–1940); heiratete 1894 Simon Bacharach, Mutter von Betsy de Paauw-Bachrach.

Skript

Handschriftl. Tagebuch

 

[…]

Die Aufrufe zur „freiwilligen“ Auswanderung kommen zu Hunderten, nein zu Tausenden herein, auch unser Demy hat einen erhalten, eine halbe Stunde nachdem er zum zweiten Mal für die Lager für untauglich erklärt worden war. Was war der Junge froh und wie erleichtert waren wir alle. Und dann, direkt nach dieser frohen Botschaft, kam das Einschreiben …

Und es ist alles so wie im Erlkönig: „Und bist du nicht willig, so brauch ich Gewalt.“

Gewalt, das ist nichts für so einen herzlich guten Kerl wie den Demy. Armer, armer Junge! Letzte Woche Donnerstagabend: untauglich erklärt für die Lager. Freitagabend: ab nach Deutschland (Polen …?), weg, innerhalb weniger Tage … Und die musste er auch noch zum größten Teil bei den deutschen Behörden oder beim Jüdischen Rat verbringen. Laufen, sich abhetzen, von einem Ende der Stadt zum anderen. Denn ein Jude darf nun mal nicht mehr mit der Straßenbahn fahren. Ein Jude darf kein Fahrrad mehr besitzen, und ein Jude darf kein einziges Transportmittel mehr benutzen. Ein Jude muss mit einem Koffer mit Arbeitskleidung, Arbeitsschuhen, Medikamenten und Lebensmitteln für drei Tage – irgendwie dafür sorgen, dass er um halb zwei nachts am Hauptbahnhof ist, ganz gleich, von welcher Ecke der Stadt er kommt. Seine beiden Wolldecken und 2 x Bettwäsche darf er sich auch noch um den Hals hängen. Und jetzt ist er weg. Für immer?? Heute Nacht haben wir uns von ihm verabschiedet.

Und da stand er: Der Brotsack hing ihm über der Schulter, die Feldflasche baumelte daneben … Ein großer, starker Kerl und in seinem Innern ein unverdorbenes Kind.

Der gute Onkel Demy der Jungen und von Let, jetzt mit dem Gesicht eines Sterbenden. Und dann auf einmal die Frage an uns alle: „Nicht wahr? Ich komme zurück! Sonst hättet ihr doch zu mir gesagt, ich solle nicht gehen??“

Kurz darauf, als wir uns alle noch einmal umarmt haben, bringt Louis seinen schweren Koffer nach unten. Auf dem dunklen Treppenpodest sucht er noch einmal nacheinander alle unsere Hände und dann erklingt (oh, wie soll ich jemals wieder diesen Ruf vergessen) wie ein Todesschrei sein letztes „Tschüüüss“ über den stillen Platz.

Wir schicken ihm auch noch ein „Tschüss“ hinterher, aber das wird er schon nicht mehr gehört haben, er, der Taube. Jetzt können wir uns auch schon nicht mehr sehen. Die Nacht ist sehr dunkel … wir wissen, dass dort „unser Demy“ geht … wir wissen nicht, wohin er geht. Wir wissen auch nicht, ob er jemals zurückkehrt …

Als wir wieder oben sind, beginnt Opa auf einmal heftig zu schluchzen und zu klagen: „Was werden sie mit ihm tun? Sehe ich ihn jemals wieder?“

Opa ist 72. Er hat ein schwaches Herz und sein einziger Sohn muss nach Deutschland (Polen?). Das heißt „freiwillige“ Auswanderung.

Was für ein Glück, dass Oma nicht mehr lebt!