Dok. 09-169

Ein Flüchtling aus Treblinka schildert im Oktober 1942 seinen Aufenthalt im Vernichtungslager und seine Flucht

Gegen Morgen setzte sich der Zug

Das Ergebnis der in der letzten Zeit im Ghetto Litzmannstadt durchgeführten

Orte
  • Grenze Staatsgrenzen von 1937
  • Grenze Staatsgrenzen und Grenzen der Unionsrepubliken der UdSSR 1938–1941
  • Grenze Deutsch-sowjetische Demarkationslinie im besetzten Polen vom 28. Sept.1939
  • Grenze Grenze zwischen den eingegliederten Gebieten und dem Generalgouvernement
  •  
Personen

Möglicherweise Jakub Krzepicki (1915–1943), er stammte aus dem Kreis Wieluń, wohnte später in Danzig, dann in Polen; im Sept. 1939 Kriegsteilnahme, nach Entlassung aus der Kriegsgefangenschaft im Warschauer Getto Mitglied der Gruppierung Hanoar-Hatzioni; er starb im April 1943 in den Reihen der Jüdischen Kampforganisation während des Getto-Aufstands.

 

Skript

Bericht für das Untergrundarchiv des Warschauer Gettos

 

[…] Gegen Morgen setzte sich der Zug in Bewegung. Wir fuhren lange, ohne zu wissen, wohin.

Nach einigen Stunden Fahrt kam ein SS-Mann in den Waggon. Er versicherte uns höflich und überzeugend, dass wir zu dem Ort Treblinka fahren würden und nach der Selektion weiter zu unserem Arbeitsplatz. Er forderte uns auf, gehorsam und fleißig zu sein. […]

Der Zug hielt an. Abrupt wurde die Tür geöffnet, und wir befanden uns auf einem Platz, der auf allen Seiten mit Stacheldraht umzäunt war. […] Die Frauen wurden zur Baracke auf der linken Hofseite geführt, den Männern wurde befohlen, sich in der Platzmitte aufzustellen.

Auf dem Platz sahen wir Leichen und Unmengen von Lumpen und Kleidern. Alle packte das Grauen. Todesahnung hing in der Luft. Aber niemand unternahm irgendetwas. Wir waren gelähmt vor Angst, Erschöpfung und Hunger.

Dann erschien ein SS-Mann. Er hielt eine Ansprache. Er erklärte, alle würden Arbeit und Essen bekommen, wir hätten nichts zu befürchten. […] Nach ein paar Minuten erschien ein anderer SS-Mann und erklärte, er brauche 60 Personen zum Arbeiten. Trotz ihrer Erschöpfung meldeten sich alle freiwillig dafür. Daraufhin begann der Deutsche auszuwählen. Ich befand mich unter den Ausgewählten. Man führte uns aus dem Hof zu einem hinter den Gebäuden gelegenen Platz. Dort lagen haufenweise Leichen mit schrecklich entstellten Gesichtern. Das waren diejenigen, die in den Waggons erstickt waren.

Unsere Arbeit bestand darin, die Leichen zu den nahegelegenen Gruben zu tragen. Das war eine schreckliche Arbeit. Die maskenhaft starren Gesichter der Leichen waren bläulich schwarz und aufgedunsen, die Augen hatten einen wilden Ausdruck, die Körper waren schwer und ineinander verkeilt. Wir wankten vor Erschöpfung. Trotzdem war es verboten, auch nur für ein Weilchen auszuruhen. Wenn ein Deutscher bemerkte, dass jemand das Arbeitstempo verlangsamte, krachte ein Schuss und eine weitere Leiche fiel zu Boden. […]

Endlich Schluss. Wir stellen uns an. Wasserkübel sind da. Jeder erhält einen Becher Wasser. Ich fühle, wie das Leben in mir erwacht, wie ich mir langsam wieder bewusst werde, dass ich ein Mensch bin, dass ich lebe, fühle und denke.

Für kurze Zeit drängt Erleichterung die entsetzliche Realität in den Hintergrund, doch dann dringt diese wieder ins Bewusstsein durch. […]

Wir wurden zur Arbeit in den Speicherbaracken eingeteilt. Wir mussten eine riesige Menge Kleidung durchsuchen und die gefundenen Wertsachen sortieren. Damit verbrachten wir acht Tage, an denen keine Transporte mit Menschen ins Lager kamen. Für eine Weile stabilisierte sich unser Leben als Lagerarbeiter. In dieser Zeit lernte ich das Lager kennen und erfuhr Einzelheiten, die ich bis dahin nicht gewusst hatte.

Auf dem riesigen, von Stacheldrahtverhauen begrenzten Platz befinden sich Lagerhäuser für Kleidung, Baracken für die Lagermannschaft und für die Arbeiter, eine leere Fläche, auf der die Menschen zusammengetrieben werden können, und Stellen, die für Erschießungen vorgesehen sind. Aber den meisten Platz nehmen wohl die Gruben ein. Bevor Tag und Nacht Menschen hierher transportiert wurden, haben Bagger die Erde aufgewühlt, um Gräber für Millionen Menschen zu schaffen.

Vom Platz in der Mitte führt der Weg durch den Wald zum Badehaus. Es ist ein kleines, im Gebüsch verstecktes Gebäude, getarnt mit einem grünen Netz auf dem Dach. Wenn die Menschen zum Badehaus getrieben werden, ziehen sie sich auf dem Weg dorthin nackt aus und übergeben die einzelnen Kleidungsstücke den Arbeitern, die eigens dafür am Weg aufgestellt sind. […]

Ins Badehaus lässt man jedes Mal 800-1000 Menschen hinein. Keiner von uns Arbeitern wusste genau, auf welche Art [dort] getötet wird. Uns schien jedoch in der Umgebung des Badehauses ein kaum wahrnehmbarer Chlorgeruch in der Luft zu liegen. Das Leeren der Kammer gehörte nie zu meinen Aufgaben. Aber ich wusste, dass man die Leichen zu den nahegelegenen Gruben brachte, wo sie anschließend zusammen mit den Lagerabfällen verbrannt werden. Vorher reißt man den Leichen jedoch in einer kleinen, neben dem Badehaus gelegenen Bude die Goldzähne aus. Diese Arbeit verrichten besonders privilegierte Arbeiter, die Totengräber, denen im Übrigen der gleiche Tod bevorsteht wie der, bei dem sie assistieren. Wir wussten alle, dass die Arbeit, an die wir uns klammerten wie an einen rettenden Strohhalm, nur die Qual verlängert, auf den Tod zu warten, in diesem von ungeheuerlichem Grauen erfüllten Lager. Die Hoffnung auf Rettung, die Hoffnung auf Flucht war verschwindend gering. […]

Ich hatte vor, mich in dem Waggon mit Kleidung zu verstecken. Aber das war nicht leicht zu bewerkstelligen. Die Arbeiter an den Waggons waren abgezählt, und wenn jemand fehlte, wurden alle Übrigen zur Verantwortung gezogen. Schließlich gelang es mir, die Kameraden zu erweichen, und sie halfen mir, mich unter den unglaublichen Mengen an Kleidern im Waggon zu verstecken. Mit mir zusammen versteckten sich noch zwei Männer, Vater und Sohn. Wir schafften es, an unserer Stelle Männer in die Gruppe zu schleusen, die vom Platz geführt werden sollten.

In den Kleidern vergraben, wartete ich unter ungeheurer Anspannung darauf, was passieren würde. Kurz darauf rüttelte es an der Tür und sie wurde geöffnet. Wir spürten, wie eine Hand die Kleider durchwühlte und nach versteckten Menschen suchte; wir bemerkten helles Scheinwerferlicht. Wir warteten mit erstarrten Herzen, aber zu allem bereit.

Das Zuknallen der Tür kündigte uns das Ende der Qualen an. Nach einer Weile krachte ein Schuss, offensichtlich hatte die Suche im benachbarten Waggon zum erwünschten Ergebnis geführt. Der Zug blieb noch eine Zeit lang stehen, Schüsse krachten.

Endlich ein starker Ruck: Der Zug setzte sich in Bewegung. Erleichterung – wir waren gerettet. Aber was nun?

Wir wussten nicht, in welche Richtung der Zug fuhr, aber wir wussten, dass wir nicht bis zum Zielort mitfahren durften. Ich wartete ab, bis der Zug seine Fahrt verlangsamte und sprang durch das Fenster ins Ungewisse. Die frische Nachtluft überwältigte mich. Für einen Augenblick ergötzte ich mich am Gefühl meiner Freiheit. Der Albtraum der vergangenen Tage verschwand, aber wie rasch sollte er wiederkehren, verwandelt in einen anderen: den Albtraum der künftigen Tage. […]