Dok. 09-110

Israel Lichtensztejn berichtet am 1. August 1942 über die ersten zehn Tage der Vernichtungsaktion gegen das Warschauer Getto

Man hat uns verraten!!! Schon seit zehn Tagen vollzieht sich

Sehr geehrter Herr Bürgermeister,
im Anschluß an mein Schreiben

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Israel Lichtensztejn, auch Lichtenstein oder Lichtensztajn (1904–1943), Lehrer; in den 1930er-Jahren Mitglied der Poale Zion-Linke, Redakteur der jidd. Wochenzeitung Literarishe Bleter; im Warschauer Getto Leiter der Suppenküche für Kinder im Schulgebäude an der Nowolipki-Straße 68, Mitglied der konspirativen Gruppe Oneg Schabbat und Archivar des Untergrundarchivs; 1943 kam er kurz vor dem oder beim Getto-Aufstand um.

 

Skript

Handschriftl. Aufzeichnung für das Untergrundarchiv des Warschauer Gettos

 

Zehn Tage „Umsiedlungsaktion“ der Warschauer Judenheit, beginnend am Vorabend des Tischa be Aw 1942

 

Man hat uns verraten!!! Schon seit zehn Tagen vollzieht sich die schreckliche Ausrottung der Warschauer Juden. Jeden Tag werden 5000 bis 10.000 Juden gefangen und aus Warschau deportiert. Alte Menschen und kleine Kinder werden erschossen. Die Übrigen werden deportiert und sicher auch erschossen oder vergast. […]

Die Aktion ist folgendermaßen organisiert: Durch die jüdischen Viertel marschieren Abteilungen der Polizei (der jüdischen). Zu einem bestimmten Zeitpunkt umstellen sie einen Hauseingang, und das ganze Haus wird abgesperrt. Alle Menschen müssen die Wohnungen verlassen und in den Hof gehen. In den Wohnungen führt die Polizei strenge Kontrollen durch, und wehe demjenigen, der dem Befehl nicht folgen will. Verschlossene Wohnungen werden aufgebrochen, die Türen mit dem Beil aufgehackt und alle Wohnungen dem Chaos preisgegeben.

Wenn alle Bewohner des Hauses unter freiem Himmel stehen, werden die Eingänge zu den Wohnungen versperrt, diese werden nochmals kontrolliert, bevor die Personenkontrolle beginnt. Jeder muss mit seinem Ausweis antreten. Hat er eine gute Bescheinigung, dass er in einer Werkstatt arbeitet, Angestellter der Gemeinde oder des J.H.K. [Jüdischen Hilfskomitees] ist, wird er beiseitegestellt, taugt sein Ausweis nichts, wird er so, wie er geht und steht, auf die Straße abgeführt, wo schon Wagen und Busse bereitstehen – und hinauf mit ihm „Na wóz!“ [„Auf den Wagen!“]

Alle Übrigen, die keine Arbeitsbescheinigungen haben, werden hinausgeführt und –„Na wóz!“ – zum Umschlagplatz getrieben, der jetzt in ein Tränenreich jüdischer Schmerzen, Leiden, des  Kummers und des Todes verwandelt ist … Dort stehen schon die leeren Güterwaggons, in die man jeweils 120-200 Personen hineinquetscht und ab geht’s. Wohin?! Das weiß keiner. Brest, Bobrujsk, Smolensk; das sind nur Varianten. Wer die Geschichten von Chełmno oder Trawniki kennt, der weiß, wie diese Unglücklichen umkommen. Maschinengewehr, Gas, elektrischer Strom – so werden sie von ihrem Leid erlöst. Dann in Massengräber für je 1000 bis 1500 Personen.

Jeden Tag kommen die Offiziere und SS-Leute auf den Umschlagplatz, um ihre Spielchen zu spielen. Dieses Spiel kostet Hunderte Menschenleben. Sie schießen, auf wen sie wollen. Besonders auf alte Leute, Kranke, Verkrüppelte und Kinder. Sie suchen unter all den Unglücklichen die Alten, Kranken, Verkrüppelten und Kinder heraus, die mit Wagen zum Friedhof überführt und dort – erschossen werden. –

Die Polizei wütet in den Straßen. Wachen packen Passanten und nehmen sie fest. Männer, Frauen, Kinder und Alte werden auf die Wagen geladen, dabei werden Kinder den Eltern entrissen, Mütter von Kindern, Männer von ihren Frauen und Kindern getrennt. So sieht die „Umsiedlung nach Osten“ von ganzen Familien aus … – […]

Aber wenn schon sterben, dann „wie Menschen und nicht wie Lämmer“. […]

Meine Meinung war und ist, dass die Gemeinde diese Arbeit ablehnen und gleichzeitig den Befehl herausgeben sollte, mit der JSS [Jüdischen Sozialen Selbsthilfe] und anderen gesellschaftlichen Gruppen anzurücken, sich zu verteidigen und auf die Polizei zu stürzen. Im Laufe eines Abends sollte das [ganze] jüdische Getto angezündet werden. Jedes Hauskomitee soll sein Haus anzünden, den Boden und den Keller, danach hinaus auf die Straßen mit einem Messer, einer Axt, Stöcken und Steinen. Gegen die Mauern anrennen und den Deutschen heftigen Widerstand bieten. Wenn sie uns auch zusammen mit unseren Frauen und Kindern erschießen – wir hätten auch einige von ihnen umgelegt. Das Getto soll brennen, ein großer Brand, Maschinengewehre sollen schießen, Bomben sollen fallen, wen stört es. Mit Freude und Triumph sollten wir dem Tod entgegengehen. Wenn schon sterben – dann wie Helden und nicht wie Feiglinge. Über die Gettomauern! Auch wenn uns später unsere Nachbarn, die Polen, dort begraben müssen. […]