Dok. 05-152

Edith Goldapper berichtet über ihre Flucht aus Belgien nach Frankreich im Mai und Juni 1940

Jawohl, es ist der 10. Mai 1940, der Krieg in Belgien

Jawohl, es ist der 10. Mai 1940, der Krieg in Belgien

Orte
  • Grenze Staatsgrenzen von 1937
Personen

Edith Goldapper Rosenthal, geb. Goldapper (*1924); aufgewachsen in Wien; gelangte im Dez. 1938 mit einem Kindertransport nach Belgien, lebte bis zur Evakuierung nach Frankreich im Mai 1940 in Kinderheimen und Pflegefamilien; 1940–1943 Aufenthalt in Südfrankreich in der Kinderkolonie im Schloss La Hille; im Dez. 1943 Flucht in die Schweiz; nach dem Krieg Emigration in die USA.

 

Elka Frank (*1915); Flucht aus Deutschland nach Palästina, wo sie den Belgier Alexandre Frank heiratete; 1936 Rückkehr nach Brüssel; von 1939 an leitete sie das Kinderheim „Général Bernheim“ bei Brüssel, nach dem deutschen Angriff begleitete sie ihre Schützlinge nach Südfrankreich, Betreuerin in der Kinderkolonie im Schloss
La Hille; Flucht nach Spanien.

 

Richtig: Gaspard Dewaay (1910–1989), Sportlehrer und Straßenbahnschaffner; von Jan. 1939 an Leiter des Kinderheims „Herbert Speyer“ in Anderlecht, begleitete im Mai 1940 gemeinsam mit seiner Frau Lucienne die Heimkinder nach Südfrankreich und betreute sie bis zu seiner Rückkehr nach Belgien im Sept. 1940.

 

Léa Gillis; Lehrerin.

Skript

Handschriftl. Tagebuch, Einträge vom 10.5.1940 bis Mitte Juni 1940

 

Jawohl, es ist der 10. Mai 1940, der Krieg in Belgien hat angefangen. So schrecklich das auch klingen mag, es ist Tatsache! Eine Panik herrscht bei uns. Bei jedem Alarm, den man aus Ruisbroek oder Brüssel hört, stürzen wir in den Keller. In jeder Freizeit versuchen wir einen Schützengraben herzustellen. Auch der gelingt, und er wird von uns benützt. Mittlerweile versucht Frau Frank, ob es nicht irgendwie eine Möglichkeit gäbe, dass wir flüchten könnten. Es ist der 14. Mai. Unsere Sachen müssen schnell gepackt sein, denn bald müssen wir am Bahnhof von Schaerbeek sein. Leider dürfen wir nicht mehr als zwei Aktenmappen mitnehmen. Gerade das Nötigste hinein und viel angezogen. Meine restlichen zwei Koffer stelle ich zum Teil gepackt wieder auf den Boden zurück. Mittlerweile ist es 4 Uhr nachmittags geworden. Alle stehen wir bewaffnet mit unserem spärlichen Gepäck am Haustor. Samt Mme. Frank und Mlle. Lea sind wir ungefähr 35 Personen. Ach, es ist ein trauriger Anblick, wie wir alle zur Tram marschieren und von unserem geliebten Home Général Bernheim Abschied nehmen müssen. In Anderlecht angekommen, gehen wir erst ins Jugendheim und holen die Jungens ab, deren Direktor Monsieur Gaspard Deway ist. Mit denen zusammen ziehen wir nach Schaerbeek zu. In den Zug können wir erst um 11 Uhr nachts einsteigen, so müssen wir uns noch 5 Stunden auf dem vollgepfropften Bahnhof abquälen. Endlich bekommen wir Platz und zwar in einem herrlichen Viehwagen. Ein Waggon für die Jungens, ein anderer für uns. Langsam setzt sich der Zug in Bewegung. Wir fahren irgendwohin, ins Ungewisse, keine Ahnung, in welches Land! Von zu Hause haben wir genügend Proviant zum Essen mitgenommen, so daß wir diesbezüglich nichts zu befürchten haben. Außerdem gibt es überall in jeder Stadt, wo wir halten, gute Leute, die uns zu essen bringen. So sind wir schon 1½ Tage unterwegs, haben aber auch schon erfahren, daß wir nach Frankreich fahren. Toiletten gibt es in unserem herrlichen Waggon nicht, so ist das eine der schwierigsten Fragen, die zu lösen ist. Aussteigen kann man sehr schwer, denn der Zug hält in sehr komischen Abständen. In der Nacht mache ich kaum ein Auge zu. Besonders heute nacht, wo wir in Ab[b]eville, in der Nähe von Dieppe, waren und ein großes Bombardement hatten. Jetzt sind wir in Dieppe. Lange haben wir hier Aufenthalt. Man stellt fest, daß ein Zug nach uns beschädigt worden ist. Auch aus dieser Aufregung kommen wir gut durch.

4 Tage und 4 Nächte sind wir schon unterwegs, aber nun auch am Ziel. Wir haben Toulouse erreicht. Hier steigen wir aber nicht aus. Etwas weiter in Villefranche-Louroguais [Lauragais]. Von hier aus führt uns ein Autobus weiter nach Seyre par Nailloux. In einem Schloß würden wir untergebracht werden, sagt man uns. Aber wie groß ist nun die Enttäuschung, da wir ein altes zerfallenes Haus erblicken. Das Schloß allerdings ist 10 Minuten weiter, aber nicht für uns bestimmt. Wir betreten das Haus: kein Tisch, kein Stuhl, kein Bett. Eine richtige Wüste. Unsere Sachen legen wir in eine Ecke, und dann versuchen wir bei dem Bauern von gegenüber etwas Holz zu bekommen. Bald haben unsere Jungens einige Tische und Bänke gezimmert, und wir können das Abendbrot einnehmen, das uns die Bauern bringen. In verschiedenen anderen Zimmern legt man Stroh hinein. Dort werden wir dann schlafen. So bleiben wir ungefähr 3 Wochen. Dann bekommen wir Bretter und die Jungens stellen Betten her. Es ist alles sehr primitiv, aber wir sind ungeheuer glücklich.

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