Dok. 05-024

Ruth Maier beschreibt am 20. Juni 1942 ihre zwiespältigen Gefühle gegenüber anderen Juden in Norwegen und den österreichischen Wehrmachtsangehörigen


Ich war in einer Synagoge. Es war sehr fremd. Die

Ich war in einer Synagoge. Es war sehr fremd. Die

Orte
  • Grenze Staatsgrenzen von 1937
  • Grenze Grenzen der Oberlandratsbezirke nach der Gebietsreform von 1940 (im Protektorat Böhmen und Mähren)
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Personen

Ruth Maier (1920–1942), Studentin und Schriftstellerin; aufgewachsen in Wien; im Jan. 1939 kam sie als Flüchtling nach Norwegen, 1940 Abitur, 1940–1942 freiwilliger Frauenarbeitsdienst, danach verdiente sie ihren Lebensunterhalt mit kunsthandwerklichen Arbeiten und Modellstehen, belegte Abendkurse an der Kunst- und Handwerksschule in Oslo; im Nov. 1942 verhaftet und nach Auschwitz deportiert, dort am 1.12.1942 ermordet.

 

Dita: Kosename für die jüngere Schwester Judith (*1922); sie gelangte im Dez. 1938 mit einem Kindertransport nach Großbritannien, heiratete dort später Hans Suschitzky und wurde Lehrerin.

Skript

Handschriftl. Tagebuch

 

20. Juni 1942

Ich war in einer Synagoge. Es war sehr fremd. Die Juden kamen gut angezogen, mit Hüten auf den Köpfen. Einer, mit einem weißen Schal und schwarzer Mütze, betete vor einer Art Altar. Er betete und sang. Oft fielen die Juden ein, halb singend, halb sprechend. (Es war wie in einem Bienenkorb.) Wenn ich die Augen schloss, war es wie im Orient. Manchmal verstand ich „adonoi“. Das ist hebräisch: Gott.

Ich fühlte mich nicht dazugehörig. Ich war fremd. Die Juden hatten schwarze Haare, sie waren klein u. dunkel. Ich sah sie als Juden und mich … als … Nicht-Juden. Es war etwas in mir, das sich von ihnen zurückzog. – Früher war es anders.

Den österreichischen Soldaten wieder bin ich so nahe. Ich wollte mit ihnen sprechen. Mein Volk. Will ich sagen. Und sie sind doch gar nicht mein Volk. Ihre Sprache rührt mich so tief drinnen. Im Zug tröste ich einen: er sprach mit einem norwegischen Mädel: die fragte ihn, woher er sei. Aus Österreich, sagte er. Da war mir so gut. Nachher sah ich viele mit den grünen Schirmmützen. Sie waren mir so bekannt. Ihre Sprache ist wie ein Wiegenlied.

Ich bin zu dem merkwürdigen Resultat gekommen, daß ich die Juden doch nicht kenne. Das ist so traurig. Ich möchte wieder mit ihnen zusammen sein. Ungeteilt sie lieben. Wie damals, als ich mit Dita in der zionistischen Vereinigung war. Sie sangen hebräische Lieder. Ich fühlte damals, wem ich angehörte.