Dok. 04-286

Die Untergrundzeitung Biuletyn Informacyjny schildert am 23. Mai 1941 die Lage der jüdischen Bevölkerung unter der deutschen Besatzung

Die Deutschen haben bei sich die Judenfrage auf dem Wege der sog. Nürnberger Gesetze

Die Deutschen haben bei sich die Judenfrage auf dem Wege der sog. Nürnberger Gesetze

Orte
  • Grenze Staatsgrenzen von 1937
  • Grenze Staatsgrenzen und Grenzen der Unionsrepubliken der UdSSR 1938–1941
  • Grenze Deutsch-sowjetische Demarkationslinie im besetzten Polen vom 28. Sept.1939
  • Grenze Grenze zwischen den eingegliederten Gebieten und dem Generalgouvernement
Skript

Die Juden

 

Die Deutschen haben bei sich die Judenfrage auf dem Wege der sog. Nürnberger Gesetze gelöst, deren Hauptziel darin bestand, jeglichen jüdischen Einfluss auf die deutsche Kultur zu unterbinden; die wirtschaftlichen Auswirkungen waren von geringerer Bedeutung. In Polen ist es anders. Das Generalgouvernement stellt nach den Worten eines deutschen Publizisten nicht umsonst „eines der großartigsten Versuchsfelder der deutschen Gestaltungsmacht dar“, und der Schaffensdrang der Deutschen ist hier durch nichts behindert. Daher sind sie hier nicht nur anders an die Frage herangegangen als im Deutschen Reich, sondern bei ihrer Lösung auch um einiges weiter gegangen.

Bisher lassen sich in der Abwicklung der jüdischen Angelegenheiten in Polen durch die Deutschen zwei Zeiträume ausmachen: die Phase der Entmachtung und die Phase der Absonderung der Juden.

Es begann mit der Entmachtung der Juden, vor allem der wirtschaftlichen. Diesem Zweck dienten die Einsetzung von Treuhändern oder Kommissaren für das gesamte jüdische Vermögen (Fabriken, Werkstätten, Warenlager, Banken), die Sperrung der Bankkonten, das Verbot, die Bahn zu benutzen usw. Gleichzeitig wurden in riesigem Umfang Waren beschlagnahmt, und jüdische Angestellte wurden im nichtjüdischen Wirtschaftssektor entlassen. Schließlich mussten alle jüdischen Schulen schließen und Juden bekamen keinen Zutritt mehr zu Bibliotheken, Theatern, Kinos und Cafes. Die jüdischen Gemeinden hatten Krankenhäuser, Asyle und Kinderheime, für die früher die Stadtverwaltungen aufgekommen waren, aus eigenen Mitteln zu unterhalten. Um die Juden auszuhungern, setzte man die auf Karten zugeteilten Brot- und Zuckerrationen herab. All diesen Anordnungen setzten äußere Brandmarkung und demonstrative Erniedrigung noch die Krone auf: Armbinden, gesonderte Straßenbahn- und Eisenbahnwagen, das Verbot, Grünanlagen zu betreten, die Anweisung, Deutschen den Weg frei zu machen und sich vor ihnen zu verbeugen.

Abgesehen von den sehr detaillierten offiziellen Anordnungen (von denen wir nur einen kleinen Teil angeführt haben) gab es tagtäglich Überfälle auf jüdische Wohnungen, die ungestraft blieben, unverhohlenen Raub und unterschiedlichste Formen öffentlicher Quälerei, überwiegend Schläge. All dies bereitete aber nur die völlige Isolierung der Juden vor: die Einschließung ins Getto. Das Getto wurde schrittweise eingeführt: Zuerst war Lodz an der Reihe (April vergangenen Jahres), dann folgten Warschau (November) und schließlich Krakau, Lublin, Radom (März, April diesen Jahres) sowie kleinere Städte. Es gibt drei Arten von Gettos: vollständig abgeriegelte (Lodz), teilweise offene (z.B. Warschau – Eingang und Ausgang mit Passierscheinen) und offene Gettos (in einigen kleineren Städten).

Die jüdischen Stadtviertel wurden in aller Eile errichtet. In Warschau mussten innerhalb nur eines Monats 80 000 Polen aus dem Getto ausziehen und 110 000 Juden dort einziehen. Anderswo betrug die für den wechselseitigen Umzug genehmigte Zeit nur zwei Wochen.

Die Absonderung der Juden hatte viele Folgen, vor allem wirtschaftliche. Das Getto war dazu verurteilt, Handel nur im Kreis der Glaubensgenossen zu treiben, von denen die meisten mittellos sind und ein ungeheurer Prozentsatz aus ganz und gar Elenden besteht. Die Abschottung von der Außenwelt verhinderte, dass Lebensmittel hereingebracht werden konnten, und erschwerte den Schmuggel über alle Maßen. Die Not nahm rasant zu. Die Juden waren in dem meist am ärgsten heruntergekommenen Viertel zusammengepfercht, und das hatte hinsichtlich der Gesundheit katastrophale Folgen. Als Beispiel seien einige Einzelheiten aus dem Warschauer Getto angeführt:

Das Getto entstand in einem außergewöhnlich dicht bebauten Stadtteil. Das Gebiet war so abgesteckt, dass es keinen einzigen Park besitzt, nicht an der Weichsel liegt und die einzige baumbestandene Fläche der Friedhof ist. Es herrscht dort eine unerhörte Enge. Auf einen Wohnraum entfallen im Schnitt 6 Personen und manchmal sind es bis zu 20. Nach Berechnungen der Abteilung für die Einwohnererfassung kommen in ganz Warschau 70 Personen, im Getto hingegen 1110 auf 1 ha.

Die Isolierung von der Außenwelt hat einen beträchtlichen Teil der Juden ihrer Verdienstmöglichkeiten beraubt. Nur 10 – 20 % sind in Geschäften und Werkstätten auf dem Gettogelände beschäftigt. Der gesamte legale Handels- und Geldumsatz erfolgt über eine Vermittlungsbehörde (Transferstelle). Dabei geht es darum, von den reichsten Juden die noch in ihrem Besitz befindlichen Waren, Goldbestände und Brillanten zu erpressen. Außerdem fließt jüdisches Hab und Gut durch Schmuggel nach draußen. Das Getto ist ausschließlich auf den internen Handelsverkehr angewiesen. Es ist im Ausverkauf begriffen, denn darin besteht die einzige Möglichkeit, für das Überleben an Geld zu gelangen. Da keine Waren und Rohstoffe mehr hineinkommen, dezimieren sich die alten Vorräte mehr und mehr. Der Ausverkauf führt zu immer stärkerer Verarmung. Die Warenpreise sind im Getto nicht viel höher als vor dem Krieg, während die Lebensmittelpreise, die in ganz Warschau schon erschreckend hoch liegen, im Getto noch höher sind. Wenn man bedenkt, dass die Juden wöchentlich nur 750 Gramm Brot auf Karten bekommen und dass sie im Winter völlig ohne Heizmaterial dastehen, dann hat man das ganze Grauen vor Augen, [das die] Lage dieses Bevölkerungsteils [ausmacht].

Im Januar [1941] hat man begonnen, Juden aus Städten und Kleinstädten des Distrikts Warschau in das ohnehin schon überfüllte und Hunger leidende Warschauer Getto zu bringen. Die Einwohnerzahl ist auf fast 500 000 gestiegen. Infolge dieser verstärkten Konzentration verschlechterten sich die gesundheitlichen Bedingungen unbeschreiblich, grauenhafter Hunger und entsetzliche Not entstanden. In den überfüllten Straßen laufen meist untätige Massen blasser, abgemagerter Menschen umher, an den Mauern sitzen und liegen Bettler, häufig sieht man Menschen vor Hunger zusammenbrechen. Die Zahl der vor Kinderheimen ausgesetzten Säuglinge vergrößert sich tagtäglich um mehr als ein Dutzend, mehrere Menschen sterben jeden Tag auf offener Straße vor Hunger. Ansteckende Krankheiten, besonders Tuberkulose, breiten sich aus.

Gleichzeitig werden die wohlhabendsten Juden von den Deutschen unablässig weiter um ihr Vermögen gebracht. Deren Umgang mit den Juden ist nach wie vor absolut unmenschlich. Ständig begegnet man Quälereien und wilden, bestialischen Späßen.

Ein eigenes Kapitel des jüdischen Leidens sind die im Herbst vergangenen Jahres entstandenen Arbeitslager. Dort herrschten furchtbare Zustände. Kärgliche Verpflegung, unangemessene Unterbringung, schwere Arbeit und schlechte hygienische Verhältnisse verursachten eine ungeheure Sterberate. Gesteigert wurde diese noch dadurch, dass die Lagerwache mit den Juden grausam umging. In einem einzigen Lager, in Bełżec, wurden allein ungefähr 100 Juden erschossen.

Über die rechtliche Seite, die von den Deutschen erlassenen Verordnungen oder Anordnungen, braucht man kein Wort zu verlieren – sie entsprechen weder der Gesetzgebung Polens noch dem Völkerrecht, ebenso wenig dem göttlichen oder dem positiven Recht. Die Behandlung der Juden durch die Deutschen ist Beweis für eine wahrhaftig empörende tierische Entartung und Barbarei.

Die politischen, sozialen, wirtschaftlichen, kulturellen und religiösen Folgen der gegenwärtigen Lage der Juden in Polen sind nicht absehbar. Aus Platzgründen ist es hier nicht möglich, näher darauf einzugehen. Wir wollen nur Schlussfolgerungen daraus ziehen.

Durch den Ruin der Juden und des jüdischen Handels haben die Deutschen den Handel des ganzen Landes in einem gewaltigen Ausmaß zugrunde gerichtet. Es wäre aber naiv anzunehmen, sie würden es zulassen, dass Polen die von den Juden verlassenen Plätze einnehmen. Im Gegenteil, die freien Stellen besetzen schon jetzt deutsche Einzelhandels- und vor allem Großhandelsfirmen mit monopolistischen Befugnissen sowohl für den Aufkauf landwirtschaftlicher Erzeugnisse als auch für den Verkauf der Produkte. Den Polen hat man nur die jüdischen Marktstände und einen Teil der schlechteren Einzelhandelsgeschäfte überlassen. Die „Lösung“ der jüdischen Frage auf wirtschaftlichem Gebiet besteht im Kern darin, dass der jüdische Industrielle, Großhändler und sogar Einzelhändler durch einen deutschen Industriellen, Großhändler und Einzelhändler ersetzt wird.

Und wie soll die Lösung der jüdischen Frage in Polen generell aussehen? Wie wird es weitergehen? Auf diese Frage gibt es keine Antwort. Die Deutschen selbst sagen, dass die jüdische Frage im Generalgouvernement noch ihrer endgültigen Lösung harrt. Wir müssen feststellen, dass die jüdische Frage hier in eine Sackgasse geraten ist, aus der es keinen Ausweg gibt. Besser gesagt, gibt es nur einen: die allmähliche Ausrottung durch Elend, Hunger und ansteckende Krankheiten. Dies wird der dritte Akt der jüdischen Tragödie auf polnischem Boden sein.