Dok. 04-090

Jan Kozielewski (genannt Karski) berichtet im Februar 1940 über die Lage im besetzten Polen

Die Lage der Juden in den vom Dritten Reich annektierten

Die Lage der Juden in den vom Dritten Reich annektierten

Orte
  • Grenze Staatsgrenzen von 1937
  • Grenze Staatsgrenzen und Grenzen der Unionsrepubliken der UdSSR 1938–1941
  • Grenze Deutsch-sowjetische Demarkationslinie im besetzten Polen vom 28. Sept.1939
  • Grenze Grenze zwischen den eingegliederten Gebieten und dem Generalgouvernement
  •  
Personen

Jan Kozielewski (1914–2000), Jurist und Diplomat; von 1935 an Jurastudium, militärische und diplomatische Ausbildung; im Herbst 1939 in sowjet. Gefangenschaft, Flucht in das GG und 1940 von dort nach Frankreich; Kurier zwischen der poln. Exilregierung und dem Untergrund im besetzten Polen, im Juli 1943 berichtete er bei Treffen mit Roosevelt und anderen Persönlichkeiten über den Judenmord in Polen; nach 1945 Historiker in den USA.

 

Dr. Stanisław Kot (1885–1975), Historiker; Studium u.a. in Deutschland, 1920–1933 Professor an der Universität Krakau; 1933 Politiker der Bauernbewegung; Sept. 1939 Flucht nach Frankreich; Innenminister und stellv. Ministerpräsident der poln. Exilregierung, 1941/42 Botschafter in der UdSSR, 1942/43 Staatsminister bei den polnischen Truppen im Nahen Osten, 1943/44 Informationsminister; Juli 1945 Rückkehr nach Polen, bis 1947 Botschafter in Rom, danach im Exil in Großbritannien.

Skript

Bericht für den Innenminister der polnischen Regierung, Stanisław Kot, in Angers


[…]

Die Lage der Juden in den vom Dritten Reich annektierten Gebieten.

Die Lage der Juden in diesen Gebieten ist klar, nicht kompliziert und leicht zu verstehen.

Sie stehen außerhalb des Gesetzes, außerhalb behördlicher Obhut – man ist offiziell bestrebt, sie durch Gewalt, Recht und Propaganda auszurotten oder fortzuschaffen.

Die Juden werden aus diesen Gebieten vertrieben, ihr Besitz wird beschlagnahmt, sie werden wie „Schuldige“ ins Gefängnis geworfen – das Gebiet soll restlos vom jüdischen Element gesäubert werden.

Die Juden werden hier ihrer Lebensgrundlage fast vollständig beraubt; wenn sie hier leben, dann tun die dies beinahe verstohlen, in Angst, rechtlos, da die deutschen Behörden und die deutsche Gesellschaft „die Augen vor dieser traurigen Tatsache verschließen“.

Alle tragen Armbinden oder Flecken (wie im Generalgouvernement), die sie als Juden kennzeichnen – bei Missachtung dieser Pflicht drohen strenge Strafen.

Sie dürfen grundsätzlich nicht in arischen Geschäften einkaufen, noch nicht einmal die notwendigsten Bedarfsartikel; sie dürfen grundsätzlich keine Gegenstände, Artikel und Waren herstellen, sondern höchstens reparieren u.Ä.; bereits am frühen Abend dürfen sie sich nicht mehr in der Stadt zeigen, sie dürfen nicht ohne Sondergenehmigung reisen, sie dürfen bestimmte Straßen sowie Kinos, Theater und Cafés überhaupt nicht aufsuchen, auch die meisten Betriebe und Geschäfte nicht betreten, Arier dürfen Juden nicht grüßen oder bei ihnen stehen bleiben. Juden werden zu Zwangsarbeit eingeteilt, man organisiert für sie besonderen „Gymnastikunterricht“ (beschwerliche Übungen), „Reinlichkeitsunterricht“ (eine Art „Wasserfolter“) usw. usf. Die Deutschen erlegen den jüdischen Gemeinden oft unter jedem erdenklichen Vorwand Kontributionen auf – diese Kontributionen belaufen sich normalerweise auf einige zehn- und hunderttausend Złoty.

[…]

Die Verhältnisse im Generalgouvernement.

[…]

Ich kann nicht umhin, einige typische Fälle anzuführen, die etwas Licht auf die Zustände und die Atmosphäre werfen, unter denen Juden in den von den Deutschen eingenommenen Gebieten leben.

I. Die Juden und das Recht.

Ein Angehöriger einer gewissen polnischen Einrichtung verabredete sich mit zwei deutschen Soldaten. Sie gingen in die Warschauer Altstadt und raubten ganz offen einen jüdischen Juwelier aus. Als der Chef dieser Einrichtung (ein Pole) davon erfuhr, warf er den Banditen raus. Dieser beschwerte sich bei der Gestapo. Die Gestapo lud den Chef der Einrichtung vor. Dialog:

– Warum haben Sie Herrn X herausgeworfen?

– Weil er sich als Bandit herausstellte – er hat einen Juwelier ausgeraubt.

– Von einem Raub ist uns nichts bekannt. Er hat bei einem Juden bloß gewisse Gegenstände beschlagnahmt, die er privat benötigt, und das darf er.

– Bei uns heißt das Raub.

– Und bei uns Beschlagnahme. Bitte machen Sie sich so schnell wie möglich mit unseren Gepflogenheiten vertraut. Einem Juden darf man alles abnehmen, weil alles, was die Juden besitzen, legalisiertem Raub entstammt. Es liegt uns sogar daran, dass die polnische Bevölkerung davon erfährt, dass jeder Pole in jedes beliebige jüdische Geschäft gehen und den Juden rauswerfen kann, und zwar unter dem Schutz unseres Gesetzes. Jeder, der möchte, kann einen Juden erschlagen – und wird nach unserem Recht dafür nicht verurteilt werden.

Das ist tatsächlich passiert und vollkommen authentisch.

II. Eine schwangere Jüdin.

Ich war einmal wegen eines Passierscheins bei der Gestapo. Eine intelligente, in einen Pelz gekleidete, verängstigte Jüdin kommt herein. Sie erwartet ein Kind. Sie bittet um einen Passierschein für sich oder den Arzt, damit sie oder der Arzt nach 8 Uhr abends auf die Straße gehen können, falls es zu dieser Zeit zur Entbindung kommen sollte.

Antwort der Sekretärin (Frau), einer Volksdeutschen:

– Ein Passierschein ist nicht nötig – wir werden es euch nicht erleichtern, Juden zu gebären – die Hunde verrecken vor Hunger, so ein Elend herrscht, und ihr wollt noch Juden gebären? – heraus ... heraus.

III. Das Judenlager bei Bełżec.

Bei Bełżec (an der Grenze zu den von den Bolschewiken besetzten Gebieten) haben die Deutschen ein Lager für Juden errichtet. In diesem Lager sitzen überwiegend jüdische Familien ein, die sich illegal zu den Bolschewiken durchschlagen wollten oder auf die vermeintliche und erwartete Öffnung der bolschewistisch-deutschen Grenze für den Bevölkerungsaustausch gewartet hatten. Das Lager zählt einige tausend Männer, Frauen, Alte und Kinder. Übrigens fast nur arme Leute. Ich habe dieses Lager Anfang Dezember 1939 gesehen.

Zu einem sehr großen Teil hielten sie sich unter freiem Himmel auf und schliefen auch dort. Sehr viele Menschen hatten weder angemessene Kleidung noch Decken. Wenn der eine Teil schlief, warteten die anderen, bis sie an der Reihe waren, weil man sich gegenseitig die Decken lieh. Die Wartenden traten auf der Stelle und liefen herum, um nicht zu erfrieren. Hunderte Menschen, darunter Kinder, Frauen und Alte, laufen stundenlang oder treten auf der Stelle, denn wenn sie stehen bleiben, erfrieren sie. Nach einigen Stunden wechseln sie einander ab. Sie gehen schlafen, und Hunderte andere treten auf der Stelle und laufen, treten auf der Stelle und laufen. Alle sind durchgefroren, verzweifelt, stumpf, hungrig. Eine Horde gequälter Tiere – nicht Menschen. Das ging über Wochen so.

Ich habe dieses Schauspiel eine ganze Stunde betrachtet, stand wie angewurzelt da, entsetzt und niedergeschlagen. Ein Albtraum, ein grauenhafter Traum – unwirklich: blau und rot angelaufene Kreaturen, keine Menschen. Nie werde ich das vergessen, niemals in meinem Leben habe ich etwas Schrecklicheres gesehen.

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