Dok. 02-123

Gerda Kappes berichtet ihrer Schwiegermutter Clara Kappes von den Pogromen in Bebra am 7. und 9. November 1938

Liebe Mutter! Hab recht herzlichen Dank für Deinen

Liebe Mutter! Hab recht herzlichen Dank für Deinen

Orte

._._._ Staatsgrenzen von 1937

Personen

Gerda Kappes, geb. Wenderoth (1906–1987), Hausfrau; seit 1934 verheiratet mit dem Rechtsanwalt Werner Kappes (1899–1979), 1940 dienstverpflichtet bei der Firma Bebrit, die Kunststoffartikel produzierte.

 

Clara Kappes, geb. Lips (*1870), Hausfrau; 1892–1934 verheiratet mit dem Pfarrer Adolph Kappes; zum Zeitpunkt des Pogroms hielt sich Clara Kappes bei ihrer Tochter in Kiel auf.

 

Manfred Emanuel (1892–1942), Kaufmann; Besitzer einer Manufakturwarenhandlung in Bebra; 1939 zog er zusammen mit seiner Ehefrau Martha, geb. Oppenheim (*1893), nach Aachen; starb im KZ Majdanek.

 

Ernst Eduard vom Rath (1909–1938), Diplomat; 1932 NSDAP-Eintritt; von 1934 an Gesandtschaftsattaché im Auswärtigen Amt in Bukarest, Paris und Kalkutta, von Juli 1938 an Legationssekretär bei der Deutschen Botschaft in Paris.

 

Richtig: Fritz Ellenberger (*1878), Schneider, Bademeister; 1929 NSDAP-Eintritt, 1934 SS-Untersturmführer, 1938 SS-Obersturmführer.

 

Martha Levi, geb. Frank (*1902); sie wurde in der Pogromnacht von einem SA-Mann vergewaltigt, ihr Mann Leopold Levi (*1897) ins KZ Buchenwald verschleppt; im Frühjahr 1939 zog das Ehepaar nach Mannheim, wurde von dort am 20.10.1940 ins franz. Internierungslager Gurs deportiert, im Aug. 1942 nach Auschwitz; beide Eheleute überlebten nicht.

Skript

Handschriftl. Brief

 

Liebe Mutter!

Hab recht herzlichen Dank für Deinen lieben, langen Brief, […]. […] Du hast Dich sicher sehr gewundert, daß wir noch nichts von uns haben hören lassen. Wir hätten auch längst geschrieben, aber wir wollten erstmal zur Ruhe kommen, damit unser Bericht vom letzten Ereignis nicht so drastisch wird und Du nicht so einen Schrecken bekommst. Anläßlich des Attentats auf Legationsrat vom Rath sind hier große Judenverfolgungen gewesen. In der Nacht vom Montag auf den Dienstag sind verschiedene Fanatiker der Partei in die Judenhäuser eingedrungen, haben die Juden aus den Betten geholt und alles kurz und klein geschlagen. Alle Möbel umgekippt, Porzellan, Glas, Fensterscheiben, überhaupt alles Erreichbare umgekippt und kaputt geschlagen. Vorhänge abgerissen, Stoffe und auch zum Teil Lebensmittel umhergeworfen, elektrische Lampen und Birnen, sogar die Lichtleitung kaputt geschlagen, bei Emanuels eingebaute Waschbecken, Badewanne, sogar die Mettlauer Platten sind hinüber. Wir hörten die ganze Nacht Spektakel und Klirren von Glas, dachten aber nicht anders, als es sei ein großes Autounglück geschehen. Wir schliefen die ganze Nacht nicht, konnten aber bei der Dunkelheit auch auf der Straße nichts erkennen als nur viele Menschen, ich glaube die Hälfte der Bewohner Bebras waren die Nacht auf den Beinen. Am anderen Morgen erzählte uns nun Lisbeth, was geschehen war. Wir sind dann gleich zu Dir in die Wohnung gegangen, um zu sehen, ob noch alles in Ordnung wäre. Wir fanden auch Deine Wohnung tipp topp im Schuß, sogar unsere Würstekämmerchen, Dein Klosett und Deine Kellerräume waren unversehrt, alles andere ein großer Trümmerhaufen. Der Jud Emanuel stand inmitten der Trümmer, kein Fensterkreuz mehr im Haus, keine Türe mehr, sogar die schwere eichene Haustür ist nicht mehr vorhanden, ein Bild des Entsetzens und großen Jammers. Nachmittags sind dann die Juden alle von hier weg, sie mußten wohl auch, denn sie konnten sich ja nirgends aufhalten, noch nicht einmal ein Bett war ja noch ganz. Die andere Nacht war Ruhe. Dann am Mittwoch auf den Donnerstag ging’s wieder los, denn am Mittwoch war Herr v. Rath doch gestorben. Als Rache hierfür kam die zweite Aktion. Wir hörten wieder ein furchtbares Getöse und schliefen in dieser Nacht wieder nicht, denn in der Nacht hören sich Axtschläge so sehr unheimlich an. Dieses Mal sind alle Möbel, überhaupt jegliches Inventar aus den Judenwohnungen geholt worden und auf dem Adolf-Hitler-Platz aufgestapelt und verbrannt worden. Silber, Schmuck, die großen Warenlager und die unheimlich vielen gehamsterten Lebensmittel und natürlich auch Geld sind von der Polizei beschlagnahmt und sichergestellt worden. […]

[…] Emanuel soll Sachen, nur Stoffe, im Werte von 50 000 M. gehabt haben, auch haben sie Devisen bei allen Juden in beträchtlichen Mengen gefunden, auch eine Gemeinheit, und viel Geld. Die Geschäftsbücher sind alle sichergestellt worden, der Emanuel soll in diesem Jahr bis jetzt einen Umsatz von 76 000 M. gehabt haben, kann man so etwas glauben? Wir wissen es von einem, der genau darüber Bescheid weiß, der natürlich auch dabei gewesen ist. Emanuels ihre Vorräte waren auch ausgestellt, sie waren auch sehr sehenswert und sehr bezeichnend für die ängstlichen Leute, die wahrscheinlich Angst hatten, sie müßten Hungers sterben. Denk mal, 120 Büchsen Konserven, unendliche Gläser mit dem feinsten Geflügel, Gänse, Täubchen, Hähnchen, u.s.w., […] ich kann gar nicht alles aufzählen. Herr Ellenberg [,der SS-Führer,] hat mir alles gezeigt, ich hatte so etwas von Vorräten noch nicht gesehen und bei der Fettknappheit so zu hamstern, zudem wäre doch sicher die Hälfte schlecht geworden, dieses alles war ja eine große Gemeinheit. Die anderen hatten sich auch alle gut eingedeckt, aber dieses war doch das meiste. Diese Sachen hat alle die NSV [Nationalsozialistische Volkswohlfahrt] an sich genommen und sollen auf dem schnellsten Wege verteilt werden. […] Nun sind die Juden endgültig fort, was mit den Häusern wird, weiß kein Mensch. Du kannst wenigstens noch bei Dir die Treppe rauf gehen, in den anderen Häusern sind sogar die auch weg, sie haben wohl alle nur das nackte Leben vorläufig gerettet, es weiß kein Mensch, wo sie alle hin sind, man vermutet, daß sie alle bis zur endgültigen Lösung im Konzentrationslager stecken. Verschiedene Judenfrauen sind irrsinnig geworden, die junge Frau Levi hat sich die Pulsadern aufgeschnitten. Ich habe nur Emanuels ehemalige Wohnung gesehen, aber alle anderen sind genauso zugerichtet, die Synagoge ist natürlich auch ein Schutthaufen, die Gebetbücher fliegen auf der Straße rum.

[…]