Dok. 01-022

The Times: Artikel vom 3. April 1933 über den Mord an dem jüdischen Rechtsanwalt Schumm und weitere Gewalttaten am Tag des Boykotts von dem Korrespondenten Norman Ebbutt

Berlin, 2. April. Gestern zwischen 10 Uhr morgens und Mitternacht wurde rücksichtslos

Berlin, 2. April. Gestern zwischen 10 Uhr morgens und Mitternacht wurde rücksichtslos

Orte

._._._ Staatsgrenzen von 1937

Personen

Norman Ebbutt (1894–1968); von 1925 an in Berlin, leitete er von 1927 bis zu seiner Ausweisung 1937 das Berliner Büro der Times.

 

Der ermordete Dr. Friedrich Schumm (1901–1933) lebte als Rechtsanwalt in Neidenburg in Ostpreußen.

 

Asthalter erholte sich während eines längeren Krankenhausaufenthalts von seinem Leberdurchschuss und wurde mit dem Blutorden ausgezeichnet. Wilhelm Asthalter (1910–1982), technischer Angestellter; 1930 NSDAP- und 1931 SS-Eintritt; später Tätigkeit beim Sicherheitsdienst der SS; nach 1945 in belgischer Haft.

 

Julius Streicher (1885–1946), Lehrer; 1919–1921 Mitglied der Deutschsozialistischen Partei, 1922 NSDAP- und SA-Eintritt, 1923 Teilnahme am Hitler-Putsch, Suspendierung vom Schuldienst; 1923–1944 Hrsg. der Zeitschrift Der Stürmer, 1925–1928 Gauleiter von Nordbayern; 1926–1927 Gefängnishaft wegen übler Nachrede, 1928 Entlassung aus dem Schuldienst; von 1929 an Gauleiter von Franken; 1930 Gefängnis wegen antisemitischer Agitation; 1940 wegen persönlicher Bereicherung vom Amt des Gauleiters entbunden; 1946 nach Todesurteil im Nürnberger Prozess hingerichtet.

Skript

Juden werden boykottiert. Szenen aus Berlin. Wirtschaft steht still. Lynchmordfall in Kiel

 

Berlin, 2. April. Gestern zwischen 10 Uhr morgens und Mitternacht wurde rücksichtslos eine Aktion durchgeführt, die die Nazi-Zeitung Völkischer Beobachter als „Generalprobe für den permanenten Boykott der Juden" bezeichnete. Der Boykott war äußerst wirksam, davon ausgenommen waren nur jüdische Zeitungen, Banken und wenige nicht eindeutig zuzuordnende Unternehmen. Er basierte auf Furcht und Gewalt und lief insgesamt ruhig ab, wenngleich es in Kiel zu einem ersten Fall von Lynchjustiz durch den Mob kam.

Das Opfer war ein jüdischer Anwalt namens Schumm, der von einer aufgebrachten Menge in der Polizeizelle getötet wurde, in der man ihn festhielt. Der Völkische Beobachter erklärt, dass einer von drei SA-Männern von Schüssen getroffen wurde, die durch die Tür des Möbelgeschäfts von Schumms Vater abgegeben worden waren, als die Nazis davor Stellung bezogen. Weiter wird berichtet, dass, nachdem Schumm zur Polizeistation gebracht worden war, die Polizei sich nicht in der Lage sah, das Eindringen des Mobs zu verhindern. Die katholische Zeitung „Germania" liefert eine etwas andere Darstellung. Dort heißt es, dass es einen Wortwechsel zwischen Schumm und einem der SA-Männer gegeben habe, worauf es zu einer Schlägerei gekommen sei, und dass erst dann ein Schuss (die Zeitung fragt „Von wem?") abgegeben worden sei, der einen Nazi namens Asthalter getroffen habe. Die offizielle Erklärung schreibt den Schuss Schumm zu, der nach Kiel gekommen war, um an der Hochzeit seiner Schwester teilzunehmen. Es heißt weiter, dass Schumm und sein Vater in das Geschäft geflohen seien, verfolgt von SA-Männern, die gewaltsam eindrangen, die gesamte Familie festnahmen und zum Polizei-Hauptquartier brachten. Der Mob demolierte daraufhin das Möbelgeschäft und zog zum Polizei-Hauptquartier, wo einige Personen über die Mauer des Innenhofs stiegen, sich ihren Weg in die Zelle erzwangen und Schumm töteten.

[…]

Der Boykott lähmte das jüdische Wirtschaftsleben vollständig. Schlag 10 Uhr bezogen uniformierte Nazis Stellung vor jedem jüdischen Geschäft, Kaufhaus, Café und anderen Unternehmen. Die Weisung des Anführers des Nazi-Boykotts, Herrn Streicher, dass weder Gewalt noch Zwang angewandt werden sollten, wurde nicht beachtet. In den kleinen Geschäften stand meist der Nazi-Posten – oft einen Revolver tragend – mit gespreizten Beinen im Türeingang. Ihr Korrespondent sah, wie die Posten mehreren Menschen gewaltsam den Eintritt verwehrten bzw. diese brutal wegstießen.

[…]

Polizisten waren kaum zu sehen. Am Nachmittag patroullierten Nazis mit schweren Reitpeitschen über den Kurfürstendamm. In einem Fall stürmten sie in ein Mehrfamilienhaus, da, nervösen Gerüchten zufolge, von einem der Balkone Wurfgeschosse nach ihnen geworfen worden waren. Ihr Korrespondent sah, wie zwei Zivilisten von uniformierten Nazis festgenommen und abgeführt wurden, einer von ihnen zu einem „Nazi-Heim“.
Ein ähnliches Bild ergeben Berichte aus den meisten Teilen des Landes. In Kassel wurde ein Teil eines öffentlichen Platzes vor einem jüdischen Geschäft mit Stacheldraht abgezäunt, an dem ein Schild mit den Worten „Konzentrationslager für widerspenstige Bürger, die ihre Einkäufe bei Juden machen“ befestigt war.

[…]